von Claus Günther | Während des Krieges haben sich deutsche Soldaten vielfach irgendwo einquartiert (oder sie wurden es), auch in fremden Ländern. Zwangsweise. Als der Krieg vorbei war und die Wohnräume hierzulande großenteils zerstört waren, wurden in den verbliebenen Häusern und Wohnungen Einquartierungen der Ausgebombten auf Anordnung von Behörden oder auch durch die Besatzungsmächte vorgenommen. Zwangsmaßnahmen auch hier.
Anders bei meiner Oma, so schien es mir. Sie war verwitwet und hatte in ihrem kleinen Häuschen in Harburg (Wilstorf) lange allein gewohnt. Später vermietete sie die Wohnung im Dachgeschoss an ein älteres Ehepaar. Wir, das heißt, meine Eltern und ich, lebten damals im Harburger Stadtteil Eißendorf, doch unser Zuhause wurde am 25. Oktober 1944 durch Bomben zerstört. Was nun? Wo hin?
Rückblickend fand durch den Krieg in Omas Häuschen eine Art Familien-Zusammenführung statt. Zunächst zog meine ausgebombte Mutter bei ihr ein, dann kam ich, 14-jährig, im August 1945 aus der Kinder-Landverschickung. Bald darauf kehrte mein Vater humpelnd aus englischer Kriegsgefangenschaft heim, und schließlich folgte mein Onkel Hans, dessen Soldatsein in Finnland ein Ende gefunden hatte.
So hatte Oma ihre erwachsenen Kinder wieder bei sich, nämlich meine Mutter und deren Bruder Hans, dazu mich, ihren Enkel, und schließlich ihren Schwiegersohn, meinen Vater. Doch dabei blieb es nicht.
Das Ehepaar im Dachgeschoss nahm eine ältere Frau bei sich auf, die einen seltsamen Eindruck machte, wenn sie im Haus irgendeinem Mitbewohner begegnete. Sie huschte möglichst schnell vorbei, grüßte zwar freundlich, hielt dabei aber den Blick gesenkt. Ihr Name sagte mir zunächst nichts, doch wenig später erfuhr ich dessen Identität. Sie hieß Kaltenbrunner und war vermutlich die Ehefrau oder unverheiratete Schwester jenes SS-Mannes und Kriegsverbrechers namens Ernst Kaltenbrunner, hierarchisch zuletzt die „Nummer zwei nach Himmler“, der in Nürnberg angeklagt war und vom Militärgericht am 16. Oktober 1946 durch den Strang hingerichtet worden ist.
Den schwierigsten Part innerhalb der bei Oma untergebrachten Angehörigen hatte wohl, wie mir erst viel, viel später klar wurde, mein Vater. Meine Oma hielt gar nichts von ihm, sie hätte sich für meine Mutter einen „besseren“ Mann gewünscht. Vaters Schwager, mein Onkel Hans, war Nazi gewesen, genau wie mein Vater, doch zugleich war er im Zivilberuf Beamter. Mein Vater hingegen war zwar vor dem Krieg auch beim Staat tätig, aber nur als Angestellter.
Beide, mein Vater wie auch mein Onkel, versuchten nun mit aller Energie, auch unter den neuen Vorzeichen bei „Vater Staat“ wieder Fuß zu fassen.
Onkel Hans, um seine neue, angeblich linke Gesinnung zu zeigen, schreckte nicht davor zurück, die „Hamburger Volkszeitung“ zu abonnieren, das Parteiorgan der KPD. Mein Vater hingegen, nachdem er körperlich wieder auf die Beine gekommen war, schlug sich mit Botengängen durch oder mit schlecht bezahlten Teilzeit-Jobs: 12 Stunden Arbeit, 12 Stunden Ruhe, Stundenlohn: 1 Mark. Beim Staat konnte er nie wieder Fuß fassen; „richtige“ Arbeit fand er erst 1950 wieder, mit 49 Jahren, nach fast fünfjähriger Arbeitslosigkeit. Da war Onkel Hans längst wieder als Beamter tätig.
Frau Kaltenbrunner zog bald wieder aus, doch kurz danach zog eine junge Kriegerwitwe mit einem dreijährigen Jungen in die Dachgeschoss-Wohnung ein, Verwandte von Omas Mietern, sie stammten aus dem ehemaligen Ostpreußen. Es dauerte nicht lange, da kamen sich Onkel Hans und die junge Frau näher – naturgemäß in Omas Haus. Als das meine Oma erfuhr, stellte sie ihren Sohn lautstark zur Rede. „Das Haas muss saaber blaaben“ (Das Haus muss sauber bleiben), schleuderte sie ihm in ihrem Hannoverschen Tonfall entgegen.
Ich ging damals noch zur Schule und kriegte das alles nur teilweise mit. Als aber Oma dann anfing zu kränkeln und meine Mutter sich mehr um sie kümmerte als um ihren Mann, meinen Vater, fühlte der sich völlig vernachlässigt. Wenig begeistert war ich, dass er und ich damals zur selben Zeit los mussten und zum Teil eine gemeinsame Wegstrecke hatten. Mein Vater erkor mich zu seinem Vertrauten und redete sich seinen Frust von der Seele. Ich verschloss meine Ohren und schwieg.
Autor: Claus Günther