von Manfred Hüllen | Nach dem Krieg war ich spindeldürr, dem Hungertod buchstäblich nah. Es hieß, wer bei der katholischen Kirche Messdienerunterricht nahm, bekäme etwas zu essen, Brot oder so. Ich war ja Kathole, also ging ich ab Jahreswechsel 1946/47 in die Kirche St. Bruno in Düsseldorf.
Das Kirchenschiff war zum Teil zerstört, aber der vordere Teil, wo der Unterricht stattfand, war noch intakt. In der Sakristei, einem Raum hinter dem Altar, wo der Priester sich umzog und die Gegenstände für die Messe aufbewahrt wurden, stand ein Tisch. Darauf ein Dutzend graubraune Tüten mit Mehl. Der Priester sagte zu mir: „So Junge, wenn du schön lieb bist, darfst du dir eine Tüte Mehl mit nach Hause nehmen.“ Ich ließ es also über mich ergehen. Aber nahm mir vor, es meiner Mutter zu sagen, sobald ich zu Hause wäre. Sie war meine Vertrauensperson Nummer 1.
Ich kam also mit der Tüte Mehl nach Hause. Sofort fragte meine Mutter: „Junge, was haste denn da?“ Ich: „Mutti, ich komm doch vom Messdienerunterricht und der Priester hat mir ´ne Tüte Mehl gegeben.“
Meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Junge – MEHL! Dann können wir uns ja endlich mal wieder Pfannekuchen oder was Leckeres zu essen machen. Ach wie gut, dass du in die Kirche gehst!“
In dem Moment hatte ich einen dicken Knoten im Hals und brachte kein Wort von dem raus, was ich ihr hatte sagen wollen. Und ging weiterhin zum Messdienerunterricht.
Das Ganze dauerte ungefähr vier Monate, einmal pro Woche. Manchmal gab es kein Mehl, sondern Corned Beef, das die Engländer der Kirche gespendet hatten. Zu Hause erwähnte ich nie, dass der Priester sich meines Körpers gnadenlos bediente. Immer so lange an sich und an mir herummanipulierte, bis er einen Orgasmus hatte. Dann konnte ich gehen und bekam meine Tüte. Er verlangte immer mehr.
Er machte das nicht nur mit mir. Ich habe gesehen, wie ein Freund auch mit einer Tüte Mehl nach Hause ging, aber ich sprach ihn nicht darauf an. Denn ich schämte mich und gab immer mir selbst die Schuld. Auch wenn ich nicht wusste, warum ich ein Schuldiger war.
Irgendwann war da ein anderer Priester. Ich erfuhr, dass der andere nach Bayern versetzt worden war. Im Religionsunterricht der Schule wurde mir nun immer schlecht. Ich bin umgekippt wegen mangelnder Ernährung und rausgegangen. Der dortige Pfarrer sagte: „Du musst nicht kommen.“
Wir zogen mehrmals um. Ich wurde in der Folge zu einem renitenten Schüler, was ich auf den Missbrauch zurückführe. Ich zettelte eine kleine Revolution an. Weil der katholische Pfarrer, der den Unterricht hielt, mir so auf den Senkel ging, sagte ich zu ihm: „Ich finde Ihren Unterricht katastrophal. Ich weiß, dass in der Nachbarklasse ein evangelischer Pfarrer ist, dessen Unterricht sehe ich mir jetzt mal an. Wenn es mir da besser gefällt, haben Sie mich hier zum letzten Mal gesehen.“
Ich stand auf. Da ich Klassensprecher war, standen noch sieben andere Schüler auf und gingen mit mir. Mein Klassenlehrer, Herr Persie, klopfte mir danach sogar anerkennend auf die Schulter. Mich so geradezumachen, verdanke ich meiner liberalen Mutter.
Doch sie hielt trotz ihrer lebenslustigen, modernen Lebensweise immer am lieben Gott und an der katholischen Kirche fest.
Dagegen trat mein Vater, als er 1949 aus Russland zurückkehrte, sofort aus der Kirche aus. Ich selbst bin zusammen mit meiner Frau ausgetreten, bevor wir heirateten.
Bis 26 blieb ich also noch Mitglied der katholischen Kirche. Das war ja auch eine tiefe Bindung. Meine Oma Sabine war nicht nur katholisch, sie war superkatholisch und ging jeden Morgen in das sog. Frühamt.
Ich kann das Thema ganz gut wegstecken. Ich musste nie zum Psychologen oder Psychiater. Aber mein Sexualverhalten nahm einen verrückten Verlauf. Ich war in meinem Leben nur zwei Mal verliebt. Einmal in eine Frau im Sieger Land, aber sie lernte einen anderen kennen und verließ mich. Das war eine große Enttäuschung und ich brauchte ein Jahr, bis ich mich mit Anfang 20 Frauen wieder näherte.
Aber ich verhielt mich ihnen gegenüber nicht gut. Ich wollte Sex, aber keine Bindung oder Nähe. Ich lernte nette, kluge Mädchen kennen, doch nach einem oder zwei Tagen sagte ich: „Du kannst wieder gehen.“
Meine zweite Liebe ist meine Frau. Als ich sie kennenlernte, zog sie schon nach zwei Tagen bei mir ein. Sie war und ist das ewige Wunder meines Lebens! Allerdings war ich anfangs nicht fähig, mit ihr ins Bett zu gehen.
Ich liebte sie mit dem Herzen. Sex hätte ich mit ihr nicht haben müssen, danach hatte ich mit ihr kein Bedürfnis, weil ich Angst hatte, sie wieder zu verlieren.
Schließlich sagte sie: „Jetzt komm endlich mal an den Laden!“ Wir erinnern uns beide daran, dass ich klatschnass geschwitzt war wie eine Forelle und froh, als der Kram vorbei war. Aber ein paar Tage später lief es Gottseidank in normalen Bahnen und wir konnten glücklich sein. Das ist jetzt 54 Jahre her.
Von dem Missbrauch erzählte ich ihr erst, als wir schon 44 Jahre verheiratet waren. Bis dahin hatte ich alles verdrängt.
Es kam plötzlich wieder hoch, als 2010 publik wurde, dass sich in Regensburg Priester an den Chorknaben, den Domspatzen, vergriffen hatten. Da brach es aus mir hervor: „Du, ich muss dir was sagen, das kommt bei mir aus dem siebten Keller.“
Meine Frau riet mir dann dazu, den erlittenen sexuellen Missbrauch durch den Priester endlich der katholischen Kirche zu melden. Also schrieb ich alles auf und schickte es ab.
In Hamburg hatte ich ein mehrstündiges Gespräch mit einem katholischen Priester und erhielt nach mehreren Monaten ein Schreiben, dass alle Fakten überprüft worden seien und nachvollziehbar waren. Eine Entschuldigung war darin allerdings nicht enthalten. Man bot mir indes eine einmalige Entschädigung von 5.000 Euro an. Therapie- oder weitere Gesprächsangebote von Seiten der Kirche gab es indessen nicht.
Aber ich hatte mich, wenn man so will, selbst therapiert durch die funktionierende Beziehung zu meiner Frau. Es war ein Befreiungsschlag für mich, als ich mich ihr endlich anvertraute.
Autor: Manfred Hüllen
Protokoll: Corinna Feierabend