von Karl-August Scholtz | Heute wird viel über „Wertewandel“ gesprochen. Den Wandel der früheren Ausgrenzung Behinderter gegenüber der heutigen Auffassung kann ich aus persönlicher Anschauung beschreiben.
In meiner Kinderzeit wohnte uns schräg gegenüber ein von Geburt Schwerbehinderter, der äußerlich vom gewohnten Bild der übrigen Nachbarn abwich, Die wenigen, die ihn kannten, erzählten von einem geistig eigentlich normalen Menschen. Aber seine Bewegungen und sein Kopf waren etwas anders. Das genügte, um von der Umgebung geächtet zu werden.
Wir Kinder kamen nie auf den Gedanken, dass er wahrscheinlich sehr unglücklich sei und gleiche Gefühle habe, wie wir, seine Nachbarn. Irgendwann ward er nicht mehr gesehen und wir Jungen und Mädchen machten uns deshalb überhaupt keine Gedanken.
Seitens der damaligen vorherrschenden nationalsozialistischen Auffassung galt er als nicht lebenswert. Ein Mensch weniger, der dem Staat doch nur zur Last gefallen wäre. Was kümmerte uns Kinder das schon, noch dazu ein Behinderter.
Fast vierzig Jahre später in einem Nordseebad. Im Haus gegenüber unserer Zweitwohnung wurden die Zimmer an eine Gruppe behinderter Jugendlicher vermietet. In den ersten Tagen waren wir erschrocken. Sie spielten jedoch wie auch gesunde Kinder, sangen und musizierten.
Gewiss, die akustischen Laute klangen etwas anders, aber eine Fröhlichkeit und Unbefangenheit war da, wie sie im Urlaub oder in den Ferien erwartet wird. Die Helfer gingen mit ihnen an der Küste und am Hafen entlang, wanderten im Watt. Aber nicht nur das, auch bei Tanzveranstaltungen im Kursaal erschienen sie und vergnügten sich bei der Tanzmusik.
In jedem Jahr kamen sie zur gleichen Zeit der Vorsaison wieder. Und in der Vorsaison waren es auch immer wieder dieselben Kurgäste, die zu dieser Zeit Erholung suchten. Im ersten Jahr noch belächelt, ja, mit bösen Worten abgelehnt, gehörten nach und nach die Behinderten wie selbstverständlich dazu. Es entstand ein gegenseitiges Verhältnis, wie es anfangs nicht für möglich gehalten wurde. Irre? Klapsmühle? Eine Spritze und weg? – Wer das jetzt noch sagte, spürte den Zorn der Allgemeinheit.
Seit dieser Zeit habe ich wiederholt mit Behinderten Kontakt gehabt und bin beschämt über unsere frühere Auffassung.
Noch etwas habe ich erfahren: Behinderte sind sozialer eingestellt als wir „gesunden“ Menschen.
Autor: Karl-August Scholtz