von Hans-Günter Schmidt | Meine Familie (Eltern und drei Geschwister im Alter von 3 bis 13 Jahren, ich war damals 6 Jahre alt) hatte den Krieg überstanden. Unsere Wohnung in Ottensen war uns erhalten geblieben, wenngleich die Fenster nur notdürftig repariert waren. Neben der Kälte war der Hunger das, was uns beschäftigte.
Die zu kaufenden Lebensmittel waren durch die Lebensmittelkarten kontingiert und reichten nicht aus, um den Hunger zu stillen. Daher ging unsere Mutter „hamstern“, um Kartoffeln, Obst und Gemüse zu bekommen. Nach Zugfahrten und längeren Fußmärschen bot sie den Bauern im Alten Land, in den Landkreisen Harburg, Lüneburg und Celle Zigaretten, die damalige Ersatzwährung, als Tauschware an.
Unsere Eltern rauchten nicht. Auf die ihnen zustehende Raucherkarte hatten sie anfangs verzichtet, ehe sie erkannten, welche Möglichkeit sich ihnen dadurch bot. Vater war als Schlosser in handwerklichen Dingen sehr geschickt und fertigte als Umtauschware Kuchen- und Ausstechformen, die er aus Weißblech erstellte. Dafür mussten wir drei Jungs die von britischen Truppen besetzte Kaserne in Osdorf aufsuchen, wo sich Weißblechdosen auf dem Müll türmten.
Von manchen Hamsterfahrten kam Mutter erfolglos zurück, obwohl sie etliches umgetauscht hatte. „Hamstern“ war verboten. So konnte es jederzeit zu Beschlagnahmungen durch britisches Militär oder deutsche Polizei kommen, die sich an strategisch wichtigen Punkten (z. B. an Bahnhöfen oder den Elbbrücken) postiert hatten. Dann mussten die Rucksäcke, Koffer oder Beutel auf einem Haufen entleert werden, so dass sich die Schätze dort türmten. Sie waren dann unerreichbar fern für die hamsternden Städter. Trotzdem gelang es Mutter häufig, das „Gehamsterte“ nach Hause zu bringen. Dann war die Freude in der Familie riesengroß. Brachte sie Kartoffeln nach Hause, gab es sofort Bratkartoffeln mit Senfsoße. Es schmeckte uns, als wäre es das herrlichste Essen der Welt.
Rückschauend waren nicht die hungrigen Städter, sondern die Landwirte die eigentlichen „Hamsterer“, die die Notlage ausnutzten. Mehrfach wurde erzählt, in einigen Bauernhäusern würden die gehamsterten Teppiche dreifach übereinander liegen.
Auf dem „Schwarzen Markt“ sind unsere Eltern nie gewesen. Das war ihnen wohl zu riskant, und Schmuck, außer ihren Trauringen, besaßen sie nicht.
Eine zusätzliche Nahrungsquelle war die Kaninchenhaltung auf dem Hausboden. Aber dafür mussten wir Futter (wie z.B. Löwenzahn oder Klee) auf den Grünflächen der Umgebung pflücken. Wir hatten durchweg zwei Kaninchen, die auch jeweils einen Namen hatten und zu denen wir Kinder aufgrund des Fütterns und des Stallsäuberns ein persönliches Verhältnis entwickelten, so dass sich, wenn eines geschlachtet wurde, zwei der sechs Familienmitglieder weigerten, von ihrem Fleisch zu essen.
Es dauerte noch lange bis sich die Lebensmittelversorgung normalisierte.
Autor: Hans-Günter Schmidt