von Rolf Schultz-Süchting | Überwiegend wird ja mit der Corona-Pandemie in der Öffentlichkeit und in den Medien, die seit Monaten von diesem Thema beherrscht werden, der Eindruck vermittelt, die älteren Menschen in unserer Gesellschaft seien die am schwersten Betroffenen; man müsse ihnen in ihrer Einsamkeit und Abgeschiedenheit und ihrem Gefühl, ganz unmittelbar gefährdet oder gar bedroht zu sein, ganz besonderes Mitgefühl entgegenbringen.
Ich gehöre zu dieser Gruppe der Älteren und bin durch eine Krebserkrankung vor zehn Jahren „vorgeschädigt“. Ich bin einer in unserer Hamburger Zeitzeugen-Senioren-Gruppe von etwa 20 Personen im Alter zwischen 75 und 100 Jahren, im Durchschnitt 87 Jahre. So müsste ich bzw. müssten wir ja – so denke ich – ein gewisses Gespür dafür haben, ob wir uns wirklich so bemitleidenswert finden.
Ich will es ganz offen sagen: – und zwar auch auf die Gefahr hin, dass ich bei einer etwaigen „zweiten Corona-Welle“ oder aus sonstigen Gründen noch infiziert werde oder gar trotz dann etwa vorzunehmender intensiv-medizinischer Behandlung elendig sterbe, und dass man dann meine jetzige Bemerkung mit Häme betrachten könnte – Ich fühle mich überhaupt nicht besonders bemitleidenswert, und ich habe aus dem Umgang mit meinen Zeitzeugen-Freunden auch nicht den Eindruck, dass diese sich als Gruppe ganz besonders bemitleidenswert empfinden. Wir haben sehr guten telefonischen oder E-Mail-Kontakt miteinander, tauschen Gedanken aus (die keineswegs stets um Corona kreisen), und seit einigen Wochen treffen wir uns auch wieder in kleineren Gruppen, natürlich mit angemessenem Schutz und Entfernung. Wir tauschen uns aus und fühlen uns dadurch bereichert.
Natürlich gibt es viele Ältere, insbesondere in Pflegeheimen, die objektiv und subjektiv schwer leiden, die keinen Besuch empfangen dürfen und auch sonst keinen Kontakt haben, möglicherweise sogar ohne familiären Trost allein sterben müssen. Aber tendenziell sind sie mit dieser Vereinsamungs-Situation ja auch schon ohne Corona konfrontiert. Unter den Jüngeren gibt es durchaus ebenfalls solche Gefährdungs-Leidenden und Infizierte, die mental und körperlich schwer leiden. Darüber hinaus gibt es unendlich viele Kinder, die durch die Corona-Folgen traumatisiert werden könnten. Diese Sicht lindert unser „Älteren-Leid“ erheblich.
Bei uns Älteren kommt darüber hinaus erleichternd gegenüber der Situation der Jüngeren hinzu, dass wir – jedenfalls in unserer Zeitzeugen-Altersstufe – von ganz anderen Ausgangs-Zeiten der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Zerstörungen und Hungergefühle der 40er und beginnenden 50er Jahre des letzten Jahrhunderts gestartet sind. Wir können also vermutlich eher mit beängstigenden Situationen umgehen als die Jüngeren, die in unseren letzten Jahrzehnten überwiegend in unserem Land eine beglückte und prosperierende Entwicklung erlebt haben – zwar natürlich nicht jede(r) einzelne, aber doch in der durchschnittlichen Mehrheit.
Wir können Glück und Dankbarkeit empfinden, dass wir dies alles in so positiver Entwicklung in Deutschland erlebt haben. Unsere „Fallhöhe“ durch die Pandemie ist natürlich bei weitem nicht so groß wie die der jüngeren Generation. Sie kann keine Erinnerungen an die Nachkriegszeit haben, in der es uns allen nicht gut ging und die uns geprägt hat.
Vor allem erscheint mir: Durch die vorzügliche Einstellung unserer Gesellschaft und politische, wissenschaftlich begleitete Führung sind wir in Deutschland bisher so gut und mit Glück durch die Krise gekommen wie kaum ein anderes Land, und die oppositionellen Widerspenstigkeiten, die sonst gelegentlich unserer Diskussions- und Disput-Gesellschaft eigen sind und ja auch häufig das Salz in der Suppe der demokratischen und Verhältnismäßigkeit abwägenden Kultur sind, sind monatelang ausgeblieben und haben einen einheitlich-stringenten Kurs gegen die Pandemie-Gesundheits-Gefahren erleichtert.
Aber wir haben auch für unseren Staat und Europa so viele Schulden produziert, dass einem um die jüngere Generation in ihrer Sorge um die Zukunft schon angst und bange werden kann; vor allem, wenn man auch die anderen Probleme der Welt, die durch Corona ja nicht besser, sondern eher schlimmer geworden sind – wie Klima, Heuschrecken, Erdbeben und Hunger- und Bürgerkriegs-bedingte Flüchtlingsbewegungen – als ernstzunehmende Prognose dazurechnet. Ich als Älterer bin dankbar und glücklich, dass ich dies und dramatische Coro-na-Folgen für die berufliche Zukunft nicht mehr als Belastung mit mir herumtragen muss. Ich fühle mich geradezu vor der jüngeren Generation privilegiert.
Aber eine Bemerkung sei mir abschließend erlaubt: Der in der politischen Diskussion gelegentlich aufgekommene Vergleich der jetzigen Pandemie-Situation mit den Verhältnissen des Hungers und der Zerstörungen der Kriegs- und Nachkriegszeit erscheinen mir als unangemessen: Verglichen mit den damaligen Verhältnissen und den vorangegangenen unendlich vielen Toten des 2. Weltkriegs und der Hitler-Diktatur und den Pandemien vergangener Jahrhunderte wie Pest und Cholera, deren Folgen damals nicht durch Staatsschulden-bewirkende Unterstützungen und soziale Netzwerke aufgefangen wurden, erscheinen mir die Corona-Folgen für die einzelnen Menschen in Deutschland nicht annähernd so einschneidend. Auch das erfüllt mich mit Dankbarkeit und einem gewissen Glücksgefühl.
Autor: Rolf Schultz-Süchting