von Karl-August Scholtz | Zwei indische Schulkameraden in Schwerin und ein Schwede im Stralsunder Tanzstundenunterricht waren die beiden einzigen Ausländer, die ich als Vierzehnjähriger vor dem Zweiten Weltkrieg näher kennen lernte. Aber schon als Kind besuchte ich oft in der Erntezeit auf dem Gut meines Onkels in der „Schnitterkaserne“ die polnischen Schnitter, die zur „Saison“ jedes Jahr wieder erschienen. Diese polnischen Erntehelfer waren offensichtlich sehr kinderfreundlich. Ich weiß noch, mit ihnen viel Spaß gehabt zu haben.
Sonst erinnere ich aus der Zeit keine Zusammenkünfte mit Ausländern, mit Ausnahme im kleinen Grenzverkehr, wenn meine Mutter mit mir mal mit der Fähre von Warnemünde nach Gjedser fuhr, um in Dänemark einmal wieder Schlagsahne zu essen, die bei uns schon rationiert war.
Wer ins deutsche Ostpreußen fuhr, musste durch den so genannten Korridor reisen, der zu Polen gehörte. Wir durften dort nicht, wie mir damals erzählt wurde, aus dem Zugfenster schauen. Aber auch mein Vetter, der gelegentlich nach Soldau in Polen reiste, erzählte nichts Negatives von den Polen. Auch hörten wir gern Konzerte im Radio (wir hatten schon eins) vom Sender Warschau. Sonst kannte ich Ausländer nur von Berichten der Presse und der Wochenschau im Kino, denn Fernsehen gab es damals ja noch nicht.
Nach einigen Jahren der Naziherrschaft wurde zuerst über die tschechischen und danach über die polnischen Menschen nichts Gutes mehr berichtet. Die Medien prangerten die Polen als schmutzig, faul und verschlagen an. Immer wieder durch Presse und Schule eingetrichtert, glaubte ich es schließlich auch. Und die Russen wurden mir gleich im Internat als dreckig, verlaust, kurz als „Untermenschen“ geschildert. Als Deutschland und Russland im September 1939 vor dem deutschen Überfall auf Polen einen Pakt schlossen, lieferte die deutsche Presse plötzlich freundlichere Berichte über die Russen. Manche Deutsche glaubten, das politische Gewicht sei umgeschlagen, als sich Deutsche und Russen an einer ausgehandelten Grenzlinie zur Teilung Polens die Hand gaben.
Im Juni 1941 weckte uns Rekruten in einer Schweriner Kaserne eines Morgens die laute Übertragung einer Goebbelsrede. Deutsche Truppen, hörten wir, marschierten gerade in Russland ein. Bald zeigten Pressefotos und Wochenschauen nur „Untermenschen“, „Mongolen“ und andere abscheuliche Gestalten in Scharen, die wir Deutsche zu bekämpfen hätten.
Einige Tage später sah ich als Frontsoldat auf unserem Vormarsch erstmals selbst tote Russen am Straßenrand liegen. Bald hatte ich eine Gruppe gefangener Russen mit zum Regiments-gefechtsstand zu bringen. Völlig normale Menschen, aber verängstigt uns gegenüber, wie auch wir es bei unserer Gefangennahme wohl gewesen wären. Bei einer kurzen Pause bekam ein Gefangener Durchfall, wohl durch Angst und Aufregung. Aus Mitleid führte ich ihn mit vorgehaltenem Gewehr abseits, damit er sich „erleichtern“ könne. Schon nach für ihn in viel zu kurzer Zeit kam der Befehl zum Weitermarsch. Ich musste ihn zwingen, sich wieder einzuordnen. Wegen meiner Nachsicht gegenüber diesem Menschen entging ich anschließend nur einer Strafe, weil ich erst so kurze Zeit an der Front war. Ich habe noch oft an diesen russischen Soldaten gedacht, der in deutscher Uniform auch wie einer von uns ausgesehen hätte.
Wieder bei meiner ostpreußischen Einheit zurück, klärte man mich über die Gefahren in solchen Situationen auf. Bei dieser Gelegenheit hörte ich auch zum ersten Mal das Wort „Polacken“, das in Ostpreußen wohl zum üblichen Sprachgebrauch gehörte, ich aber von Mecklenburg her nicht kannte. Die Russen waren für uns in unserer Einheit der „Iwan“ oder die „Bolschewisten“ im Sprachgebrauch, manchmal auch die „Kameraden von der anderen Feldpostnummer“! Polen lagen uns nicht gegenüber.
Auf dem anfänglichen Vormarsch unseres Feldzuges nahmen wir gelegentlich für Stunden oder Tage Quartier in russischen Dörfern. Die Einheimischen waren verängstigt, zeigten sich aber nicht unbedingt feindlich uns gegenüber.
Die hygienischen Verhältnisse waren fürchterlich. In einem Quartier im Nordabschnitt lebten wir längere Zeit, als der Bewegungs- in den Stellungskrieg überging. Für die Erledigung der Notdurft zogen wir es lieber vor, unsere eigenen Latrinen zu bauen.
Später lag uns gegenüber ein russisches Frauenbatallion. Es sprach sich schnell herum, wie hasserfüllt diese Frauen waren, und dass sie auf Späh- und Stoßtrupp brutaler vorgingen als ihre männlichen Kameraden. Wir waren gewarnt. Verständlich, dass wir sie nur noch „Flintenweiber“ nannten. Später sah ich, wie im Niemandsland, also zwischen den Fronten, hilflos liegende russische Verwundete von ihren eigenen Kameraden − den Kommissaren − erschossen wurden, um eine Gefangennahme zu verhindern. Das war mir nicht nur unbegreiflich, sondern flößte mir starke Angst vor einer russischen Gefangenschaft ein.
Zu uns kamen auch russische Überläufer und Gefangene. Wir Frontsoldaten gaben ihnen Brot, Wasser, Zigaretten. Die meisten schlotterten vor Angst. Wohl nicht ganz unberechtigt, denn die Frontsoldaten hatten trotz der Kämpfe gegen den Feind eine ganz andere Einstellung als die Soldaten in der Etappe. Je weiter sie zurückgebracht wurden, desto härter ging man mit ihnen um. Wir hingegen meinten, sie seien Feinde, aber doch in erster Linie Menschen. Und es waren noch immer keine mongolisch aussehenden Soldaten dabei.
Nach einigen Kriegsjahren lagen uns dann doch Truppen aus dem fernen Sibirien und der Mongolei gegenüber, die erbarmungsloser waren. Unser eigener Rückzug lähmte zudem unsere Moral. Als diese russischen Einheiten aber in Ostpreußen einfielen und mit Exzessen gegen unsere Zivilbevölkerung vorgingen, erwachte in den ostpreußischen Soldaten das Verlangen, mit allen Mitteln den Feind aufhalten zu müssen, bis die eigene Familie in Sicherheit sei. Trotz des Mangels an Waffen und Munition kämpften die Ostpreußen nun wieder verzweifelt gegen die Übermacht.
Wir alle wissen, wie es ausgegangen ist – und hier scheint es, hat die Prophezeiung aus der Zeit vor dem Überfall durch die Übergriffe der fernöstlichen Truppen auf deutsche Zivilisten leider Recht behalten. Es folgte ein tiefer Riss zwischen Deutschen und Russen, wenn auch deutsche Vergehen in Russland diese grausamen Ausschreitungen von Menschen gegen Menschen ausgelöst haben.
Fünfzig Jahre später besuchte ich einige meiner alten Frontabschnitte im Rahmen der Aktion „Versöhnung“ und kam mit russischen Veteranen zusammen, die meiner Einheit einst gegenüber gelegen haben. Hier lernte ich endlich die uns im Krieg verborgen gebliebene wahre russische Seele kennen.