von Frauke Petershagen | Die Denkweise und Moralvorstellungen des letzten Jahrhunderts haben sich im Vergleich mit denen von heute drastisch verändert. Das spiegelt sich in der nachstehenden Begebenheit deutlich wider.
Im Jahr 1949 unternahmen wir mit der Luisenschule in Bergedorf (heute Luisen Gymnasium) eine Klassenreise nach Wennigstedt auf Sylt. Wir waren zu der Zeit um die 13 Jahre alt.
Die weiterführenden Schulen waren damals streng nach Geschlechtern getrennt und die Luisenschule ein reines Mädchen-Gymnasium. Diese Trennung galt natürlich auch für Jugendherbergen. In Wenningstedt gab es also zwei Häuser, eines für die Mädchen, das andere für die Jungs.
Bei unserer Ankunft erwies es sich, dass das Mädchenhaus überbelegt war, was die Lehrerschaft vor ein schier unlösbares Problem stellte. Was sollte man nur tun? Nach langen Überlegungen beschloss man, vier Mädchen, von denen man annahm, dass sie sich noch nicht für das männliche Geschlecht interessierten und „herumpoussierten“, in dem Jungs-Gebäude unterzubringen.
Ausgesucht wurden meine engen Freundinnen und ich. Wir alle hatten Brüder, und von vornherein entwickelte sich ein unkompliziertes, kameradschaftliches Verhältnis zu den Jungen.
Nach dem Mittagessen wurde immer eine Ruhezeit gehalten, die einem zur freien Verfügung stand. Man konnte sie zu einem Spaziergang, Strandaufenthalt oder Schläfchen nutzen. Wir waren bereits einige Tage in unserem Reisedomizil und hatten schon einiges von der Umgebung erkundet. Irgendwie waren wir etwas lustlos und stromerten so durch das Gebäude. In der Mittagszeit standen stets sämtliche Türen der einzelnen Schlafzimmer offen und in dem einen entdeckten wir Erich. Der Bengel langweilte sich fürchterlich. Er hatte leichte Halsschmerzen und daher Ausgehverbot. Niemand seiner Zimmerkameraden war auf die Idee gekommen, ihm Gesellschaft zu leisten.
Ohne lange zu überlegen setzten wir uns zu ihm aufs Bett und spielten Karten, was für alle recht kurzweilig war. Das ging so eine Zeitlang. Plötzlich aber erschien im Türrahmen ein Lehrer von irgendeiner der Jungs-Schulen. Beim Anblick von uns Mädchen erstarrte er zur Salzsäule und bekam Schnappatmung. Es dauerte eine geraume Weile bis er sich wieder so weit gefasst hatte, dass er mit puterrotem Kopf eine donnernde Strafpredigt loslassen konnte. „Das ist ja nicht zu glauben! Dass ich so etwas erleben muss! Schämt ihr euch gar nicht? Ihr seid ja moralisch total verkommen! Sofort verlasst ihr diesen Raum und meldet euch bei eurer Lehrerin!“ Eine ganze Weile ging das noch so mit diesen Tiraden fort.
Wir waren total verdattert und senkten die Köpfe. Nicht aber, weil wir uns schämten, nein, weil wir uns vor Lachen kaum noch halten konnten.
Erich, der arme „verführte“ Junge, durfte in seinem Bett liegenbleiben. Wir „Sünderinnen“ aber marschierten im Gänsemarsch zum Strand, um uns bei unserer Klassenlehrerin zu melden. Im Chor skandierten wir immer wieder: „Ich bin tief, tief traurig, mir ist gar nicht lächerlich zu Mute!“ Dann wurden wir erneut von einem nicht enden wollenden Lachanfall geschüttelt.
Schließlich erreichten wir den Strand. Nach einigem Suchen entdeckten wir unsere Lehrerin. Sie saß barbusig in einem Strandkorb und genoss die Sonne. Die Arme rasch über den entblößten Oberkörper geschlagen hörte sie sich unsere „Beichte“ an und meinte dann verstohlen grienend: „Und was soll ich jetzt mit euch anfangen? Geht nur wieder zurück“.
Dem Moralprediger haben wir aber nicht verraten, wie wir unsere Lehrerin am Strand vorgefunden haben. Eventuell wäre er auf die Idee gekommen, bei der Schulbehörde Anzeige zu erstatten wegen unsittlichen Verhaltens der weiblichen Lehrkräfte.
Autorin: Frauke Petershagen