von Carsten Stern | Antrag auf Einreise in die DDR für Bürger der BRD“ – dieses holzhaltige Papier Wochen vor dem Besuch bei den DDR-Verwandten auszufüllen, war über Jahre geübte Routine.
Am 9., 10. und 11. November 1989 reiste ich zuletzt auf diese Weise in die DDR ein. Ich weiß heute gar nicht mehr genau, ob ich am Morgen des 11. November noch meinen Pass an der Grenzübergangsstelle Dreilinden-Drewitz vorlegen musste, als ich von West-Berlin nach Potsdam mit dem Bus einreiste.
Zu viel war am Tag vorher passiert. Ich war müde, bestimmt nicht vor 5 Uhr morgens ins Bett gekommen.
Ich war an diesem Wochenende in Berlin gewesen. Das hatte sich so ergeben. Wir hatten in der Firma unsere jährliche Betriebsrätekonferenz vom 8.-10. November, diesmal in Berlin im Hotel Schweizer Hof am Zoo. Als der Arbeitsrechtler war ich immer mit dabei.
Üblicherweise gaben die Vorstände an dem Freitagvormittag ihren Rechenschaftsbericht ab, zwei Stunden lang. Nur: Diesmal war alles anders.
Immer wieder stürmten einzelne Mitarbeiter in den Vortragssaal: „Kommt mal nach draußen, da fahren Hunderte von Trabbis!“ Folge: der Saal wurde halbleer. Wir mussten ja alle raus, um das Unfassbare auch wirklich zu sehen. Jetzt. Sofort. Nicht 10 Minuten später. Aus dem Straßentunnel kurz vor dem Hotel rollte Trabbi auf Trabbi, laut trötend, die Menge West-Berliner laut johlend. Viele weinten. Unfassbar. Wahnsinn. Die Mauer war wirklich offen. Was einige von uns schon oder noch in der Nacht selbst miterlebt hatten, war nun in Massen zu sehen: Die DDR-Bürger, die Ost-Berliner strömten nach West-Berlin.
Wir konnten unsere Vorstände ja nun nicht vor leeren Stühlen reden lassen. Also wieder ins Hotel, den Sitznachbarn erzählt, was draußen los war, darauf standen die auf und verschwanden, die Vorstände redeten unsicher werdend und mit nachlassender Begeisterung weiter.
Diese Veranstaltung war endlich zu Ende. Alle mussten wir raus. Es stank nach Trabbi-Benzin, der typische DDR-Zweitaktergeruch hing nun vor der Gedächtniskirche. Trabbis über Trabbis. Schlangen von Ost-Berlinern sehe ich vor den Wechselstuben an der Ecke Kantstraße, bestimmt um die 100 Menschen.
Es war Wahnsinn. Da war halb Ost-Berlin auf den Beinen in West-Berlin!
Mit meinen Kollegen entschieden wir ganz schnell. Der Nachmittag war eigentlich Besichtigungsprogramm in Kultur. Gebucht war eine Fahrt nach Sanssouci. Wir entschieden kurz ganz anders: Bus mieten, nach Ost-Berlin fahren, sehen, was da im Osten los ist. Wer wollte mit? 50 Leute von uns – kein Problem. Um zwei fuhren wir los, bis zur Grenzübergangsstelle Invalidenstraße. Dann mussten wir zu Fuß durch die Schleusen der Kontrollstellen, um auf der östlichen Seite in den Bus mit Stadtführerin einzusteigen, der vom Osten bereitgestellt war.
Was war das für ein Auflauf an der Grenze! Von der Westseite schon sah man die unübersehbare Menge Ost-Berliner, die in den Westen wollten. An der schmalen Gitterschleuse, durch die die DDR-Bürger kamen, standen Dutzende von West-Berlinern und klatschten und johlten und weinten begeistert jedem Ost-Berliner zu.
Ganz nebenbei: Durch diese Schleuse mussten auch wir Westdeutschen nach drei Stunden wieder zurück in den Westen. Die vielen, vielen West-Berliner kuckten gar nicht, dass wir Westdeutsche waren. Heute wurde jeder bejubelt, der hier durchkam. So fühlte ich mich für Sekunden wie ein Ost-Berliner, und ich fühlte mich einerseits belustigt und andererseits gedemütigt. Warum? Da standen West-Berliner mit Bananen und streckten uns Bananen entgegen. Willkommensgruß des Westens für die Hungernden und Darbenden aus der Zone? Kapitalistische Errungenschaft Banane?
Egal, die Fahrt durch den Ostsektor mit einer pausenlos redenden Ost-Berliner Führerin war ein Erlebnis der besonderen Art. Ihr lief der Mund über und die Erregung auch. Was jetzt alles passieren konnte. Die Mauer war offen. Freiheit. Der Krenz macht das ganz anders. Honecker ist endgültig weg. Jetzt sind wir frei. Jetzt bauen wir alles neu auf. Jetzt können wir endlich unsere Meinung sagen. Der Honecker hat doch gar nicht gewusst, wie es um die DDR steht. Wir brauchen keine Angst mehr zu haben. Jetzt kann ich endlich Stadtführung machen und zeigen was ich will, ich! Einen Tag vorher wäre sie für alles das noch aus dem Bus heraus verhaftet worden. Und heute war alles anders. Es war einfach nicht zu fassen. Es war der reine Wahnsinn. Wir fuhren alle Grenzübergangsstellen ab, Oberbaumbrücke, Friedrichstraße, Heinrich-Heine-Straße, Checkpoint Charlie. Überall dasselbe. Hunderte, Tausende von Menschen vor den Grenzstellen, zu Fuß, mit Autos, mit Kinderwagen. Arbeitete eigentlich noch irgendwo einer in der DDR? Die waren doch alle hier und wollten rüber! Es war einfach alles nicht zu glauben. Wahn-sinn.
War das alles Wirklichkeit? Von einem Tag auf den anderen? Aus dem Nichts? Konnte das wirklich sein?
Zurück im Westen. Die S-Bahn vom Lehrter Bahnhof war so etwas von voll. Gerade mal 500 Meter vom Übergang Invalidenstraße. Hier strömte alles rein, was über die Grenze kam. Die Bahn konnte gar nicht abfahren, so voll war sie. Wir standen wie die Ölsardinen. Und mussten noch enger zusammen, die Türen gingen sonst nicht zu. Wir, drei, vier fünf Westler, zwischen Hunderten von Ost-Berlinern eingepfercht. Das einzige was sich bewegte, waren die Münder. Und wie! Reden, reden, reden. Wahnsinn. Wahnsinn. Wahnsinn. So also sah die S-Bahn im Westen aus. „Das ist ja wie bei uns!“ Klar doch, S-Bahn ist Reichsbahn. Geschnatter, weinende Menschen, die Gesichter voller Tränen. „Wir sind im Westen!“ „Hoffentlich lassen die uns nachher wieder zurück.“ „Wir wollen raus.“ Das ging nicht. Der Zug hielt zwar, Bellevue. Ein- und Aussteigen? Unmöglich. Durchfahrt bis zum Zoo. Zoo war Berlin. West-Berlin. Und nun raus. Berlin. Der neunte November, oder der zehnte.
Ich habe die Daten vor dem Schreiben nicht nachgesehen. Aber wenn ich nachdenke: Die Öffnung der Mauer muss am späten Abend des Donnerstags gewesen sein.
Ich weiß es noch: Ich kam aus Steglitz. Es war wohl um ½ 11, als ich in mein Hotelzimmer kam und den Fernseher anstellte. Dort berichteten Reporter vom Grenzübergang Bornholmer Straße. Sie warteten darauf, dass ein Ostdeutscher die Grenze überschritt. Von Schabowskis Rede wurde erzählt. Man sah die verworrene Erklärung von Schabowski. Ich hörte, dass viele Ost-Berliner sich auf den Weg zur Grenze gemacht hätten. Aber ich hörte das. Ich hörte es akustisch. Ich nahm es nicht in mich auf. Ich begriff nicht, dass gerade die Grenze geöffnet wurde. Ich begriff nicht, dass gerade die Mauer fiel. So ging ich ins Bett, dachte, dass die DDR-Leute jetzt vielleicht sogar Tagesvisen bekommen, auf Antrag, und schlief ein.
Am nächsten Morgen. Sonderblätter im Hotel. Und einer unserer Betriebsräte hatte auf der Mauer gestanden. Am Brandenburger Tor. Nach Mitternacht! Er war nur noch zum Duschen ins Hotel gekommen. Da dämmerte es: es war wohl ein historischer Tag. Wir wurden zittrig und nervös. Wir mussten raus. Aber wir mussten unsere Vorstände anhören. Dienstliche Pflicht. Aber wir mussten doch sehen, was draußen los war, an die Grenze, selber kucken… na, so lief es dann am Morgen ab.
Und am Tag vor dem Mauerfall war ich noch in Ost-Berlin gewesen. Das letzte Mal Zwangsumtausch. Das Geld habe ich noch. Ein Andenken an den letzten DDR-Besuch, die alte DDR. Und in meinen Pass von damals habe ich noch gesehen. Stempel: Drewitz 12.11.9. Auch die Ausreiseerlaubnis hatte ich geholt. Holen müssen. Wie immer. Die Sensation war ja noch nicht so klar und deutlich. Die Bürokratie lief noch ohne die Sensation. Oder, anders gesagt, die Revolution frisst ihre Bürokraten – aber nur langsam.
Autor: Carsten Stern