Leben im Krieg

von Lisa Schomburg | Ich bin in einem bäuerlichen Haus aufgewachsen, das meiner Urgroßtante gehörte. Im angrenzenden Stall lebten zwei Schweine, viele Hühner und vier Gänse.

Weil es weit und breit keine Geschäfte gab, hatten wir – meine Mutter und meine Urgroßtante, die ich Oma nannte – einen Laden für Tabakwaren, Pfeifen, Konfitüren, Schokolade, Bonbons und Kaffeebohnen eröffnet. Die Kaffeebohnen wurden in einer Kaffeemühle zu Kaffeepulver gemahlen. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt, war einziges Kind meiner Eltern und durfte auch mal Bonbons oder Salmis verkaufen, die auf einer blankgeputzten Waage mit zwei Schalen gewogen wurden.

Wenn es nachts Alarm gab: Die Sirenen auf der Schule und auf dem Bahnhofsgebäude heulten laut mit einem Auf und Ab, dann gingen wir in unseren Kohlenkeller, der keine Fenster hatte und in dem es immer dunkel und kalt war.

Meine Eltern hatten auf den Steinfußboden zwischen den Briketts und den vielen Kohlen Matratzen gelegt, so dass wir uns in unseren Schlafanzügen dort hinlegen und mit Wolldecken zudecken konnten. Der Keller schützte uns vor Granat- und Bombensplittern, aber nicht vor den abgeworfenen Bomben. Meistens überflogen die Tommies – wie wir die englischen Flugzeuge nannten – unser Gebiet mit dem Ziel Berlin. So verbrachten wir in vielen Nächten etliche Stunden in unserem Keller. Wir haben diesen Keller erst verlassen, wenn die Sirenen Entwarnung heulten. Ich war damals Gymnasialschülerin und der Weg dorthin war lang, ca. 3 km.

Wir Kinder brauchten dann erst zur dritten Stunde in die Schule kommen, denn wir hatten durch diese nächtlichen Unterbrechungen nicht genug Schlaf bekommen. Das laute Gebrumme der vielen feindlichen Flugzeuge war auch deutlich in unserem Kohlenkeller zu hören, wo wir etliche Stunden ausharrten, bis die Sirene endlich Entwarnung gab – ein langgezogener, durchdringender Heulton. Dann konnten wir unseren Keller endlich verlassen und nach oben in die Schlafzimmer gehen. Während dieser Stunden im Keller hatte ich meine Puppe Annemie, die lange Zöpfe aus echtem Haar besaß, fest im Arm. Ich kuschelte mit ihr, dadurch hatte ich nicht so große Angst vor den Bomben.

Unser Haus lag nicht weit vom Güterbahnhof entfernt, diesen hatten die Tommies als Ziel genommen und an einem Vormittag, als wir ausnahmsweise während eines Alarms im Keller unserer Nachbarn waren, fielen Bomben auf einen Teil unseres Hauses und der Stall mit den Schweinen und Hühnern explodierte.

Was für ein Glück, dass wir an diesem Tag nicht in unserem Keller waren, wir hätten es nicht überlebt. Als wir nach dem Sirenenentwarnungston auf die Straße gingen, sahen wir den großen Trümmerhaufen. Einige Hühner lebten noch, sie lagen auf der Straße und krächzten und konnten sich nicht mehr bewegen. Von den Schweinen und Gänsen haben wir nichts, rein gar nichts mehr gefunden, sie sind total auseinandergerissen worden. Ich fand noch ein paar Federn von unseren Gänsen und habe natürlich laut geweint. Unser Haus war unbewohnbar geworden, es standen nur noch Teile von ein paar Innenwänden. Es war sehr schrecklich! Nachbarn haben für uns Platz gemacht, damit wir nachts eine Schlafmöglichkeit hatten.

Es war der 25. November 1944 und es war kalt. Ich war 14 Jahre alt und hatte vor einem halben Jahr eine kleine Schwester bekommen, um die ich mich kümmerte, während meine Eltern die großen Mauerbrocken beiseiteschafften, um einige Habseligkeiten auszugraben. Etwa 100 Meter von unserem zerstörten Haus hatten wir ein Grundstück für Kartoffeln und Gemüse. Dort gruben meine Eltern eine große Kuhle aus. Sie wollten dort ein Behelfsheim bauen, denn wir konnten nicht ewig auf unsere Nachbarhäuser verteilt leben. Wir mussten uns selbst helfen. Es war eine unmögliche Situation.

Ich ging nicht mehr zur Schule, denn ich musste mich um unser Baby kümmern, während meine Eltern auf dem Gartengrundstück für das Behelfsheim arbeiteten. Wir hatten Hunger, die Milch vom Milchmann schimmerte bläulich, weil der Rahm abgeschöpft worden war, den Rahm haben sich unsere Feinde, die Tommies, die inzwischen überall anzutreffen waren, geholt. Mit den Eiern von unseren Hühnern und den geernteten Kartoffeln aus unserem Garten haben meine Eltern Zement eingetauscht, den sie für das Behelfsheim brauchten.

Im Stall wurde heimlich ein Schwein neben den Hühnern gehalten, mit dem Plan, es später zu schlachten, um mit dem Fleisch und der Wurst Baumaterialien einzutauschen für das Behelfsheim. Geld war völlig unnütz.

In dieser Zeit, wo meine Eltern eine Grube für den Keller ausgruben, hörten wir über ein Radio, dass Hitler tot ist. Oh, wie waren wir erleichtert. Und nun war der Krieg zu Ende! Doch es ging uns allen noch lange nicht gut. Die Leute wurden erfinderisch. Wenn ich zurückdenke, weiß ich, dass wir alle sehr schlank waren, ja, mager aussahen. Gottseidank hatte mein Vater auf unserem Gartengelände eine Holzhütte gebaut, in der die Hühner übernachten konnten. Am Tag waren sie draußen in einem Gehege.

Ich war im Wachstumsalter, 15-jährig, meine Kleidung war zusammengesucht und viel zu kurz geworden. Meine Mutter schnitt von ihrem Rock Streifen heraus und nähte sie unten an meinen Rock. Das sah komisch aus. Auch schnitt sie von meinem Rock ein Stück ab und setzte ein anderes Stück Stoff dran und daran nähte sie das abgeschnittene Stück Stoff wieder an. Das sah gut aus.

Die englischen Soldaten, die noch nicht abgezogen worden sind, lebten mit den deutschen Bewohnern zusammen, wo irgendein Platz war. Für mich war das interessant und ich konnte mich ganz gut mit ihnen in meinem Schulenglisch unterhalten. Sie schenkten uns Cadbury-Schokolade.

Autorin: Lisa Schomburg