von Manfred Hüllen | Meine persönlichen Erfahrungen beginne ich mit meinen Erinnerungen an meine Familie. Da mein Vater im Gefängnis (KZ) war, sagte mir meine Mutter: „Dein Vater ist im Krieg.“ Sie wollte damit verhindern, dass ich diesen Umstand auf der Straße anderen Kindern erzählte. Später habe ich das sehr gut verstanden.
Bei der Version blieb sie bis 1949, bis mein Vater wieder zu uns kam. Dass er im KZ und anschließend im Strafbatallion war, wusste sie nicht. Mein Vater selbst erzählte mir nichts. Er sagte erst später: „Wir als Volk haben große Fehler gemacht!“, und das Schlimmste sei gewesen, „was wir den Juden angetan haben. Ich schäme mich dafür bis an mein Lebensende.“
In meiner Lehrzeit als Betriebsschlosser wurde über den Krieg nicht gesprochen. Mein sehr netter Lehrmeister, Herr Emmerich, sagte mir: „Junge, darüber rede ich nicht. Einmal in meinem Leben habe ich an eine Sache geglaubt und bin so getäuscht worden. Darum werde ich auch niemals wieder wählen.“
In der Fachhochschule Weidenau-Siegerland sprach ein Lehrer dieses Thema an, es war unser Geschichtslehrer Dr. Weiss. Er war in Berlin Plötzensee drei Jahre in der Todeszelle interniert gewesen und hatte jederzeit auf seine Hinrichtung gewartet. Da er ein Tagebuch geschrieben hatte, war dies eine ständige Informationsquelle für seine Sichtweise.
Der Englischlehrer hatte eine gegenteilige Haltung. Er war Pilot und flog die ersten Düsenjäger. Er war wohl ein begeisterter Nazi und bei den Schülern total unbeliebt. Sein Umgangston war eine Befehlssprache und das Lernen bei ihm wurde zu einer Qual.
Im Gymnasium meiner Frau, in der Luisenschule Düsseldorf, wurde das Thema Nationalsozialismus nicht erwähnt (in der Klasse war übrigens die spätere schwedische Königin Silvia Sommerlath, die 1963 Abitur machte).
In der Familie meiner Frau war der Nationalsozialismus mit einem totalen Tabu belegt. Ihr Vater war und blieb ein NS-Anhänger. Er verzieh seiner Frau nie, dass sie ihm zwei Töchter und nicht zwei Söhne geboren hatte. Schließlich sollten seine Söhne doch wie er selbst dem Führer als Offiziere dienen. Moderne Musik war für Ihn „Negermusik“ und wurde in seinem Verständnis „von Untermenschen vorgetragen“. Diese Musik zu hören war nur in seiner Abwesenheit möglich.
Beruflich war ich vier Jahre in der Schweiz. Hier hörte ich häufig, „was ich als Nazi denn in der Schweiz wolle“. Doch nicht selten sagten mir meine Schweizer Freunde, dass es speziell in der Innerschweiz, Kanton Uri-Schwyz-Opwalden-Niedwalden, viele Anhänger des Nationalsozialismus gab.
In meiner Firma in Hamburg war der Firmeninhaber Günter Berendson ein „Halbjude“. Er erzählte anfangs nichts. Ich erfuhr jedoch, dass er vor 1936 Mitglied der Deutschen Turner Olympiamannschaft war. Er wurde aber aus dem Kader gestrichen, woraufhin er sich nach Dänemark begab. 1943 wurde er jedoch von den Dänen denunziert und an die Nazis ausgeliefert. Er kam nach Buchenwald ins KZ.
Nach dem Krieg gründete er in Hamburg erfolgreich eine Werbeartikelfirma. Er verlor nie seine Angst, dass etwas passieren könnte. Geschäftlich wie privat wurde eine Mauer des Schweigens um ihn und seine Firma aufgebaut.
Und in der Freizeit? Im Tennisverein, in dem ich immerhin 36 Jahre Mitglied war, wurde nie über dieses Thema gesprochen. Nur einmal erzählte ich einem Tennisfreund, „dass mein Vater im KZ war“. Seine Reaktion: „Hör doch bloß mit dieser alten Scheiße auf!“ Zum Glück waren alle anderen nicht dieser Meinung. Er verließ den Verein.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass viele aus Scham schweigen. Andere wiederum schweigen, weil sie der rechtsradikalen Ideologie anhängen. Diesen Menschen fehlt Klugheit und Einsicht. Sie sind leider nicht fähig, aus der Geschichte zu lernen. Es ist für mich nicht unbegreiflich, dass Menschen Fehler machen. Es ist jedoch unbegreiflich, wenn sie ihre Haltung nicht ändern können.
Da wir als Zeitzeugen nicht schweigen, leisten wir einen wichtigen Beitrag, um Wiederholungen zu verhindern.
Autor: Manfred Hüllen