von Rolf Schultz-Süchting | Ich habe den 8. Mai 1945 nicht bewusst erlebt, da ich damals gerade 8 Monate alt war. Ich habe aber in meiner Kindheit und Jugend, und zwar sowohl vom Eltern- und Großelternhaus, von Kindergarten, Schule und von kirchlichen und Pfadfinder-Gruppen, wie aber auch aus der sonstigen Umgebung, in der ich mich bewegt habe, den Eindruck und das Gefühl der Erwachsenen eingeimpft bekommen, Deutschland habe beim Kriegsende einen ganz schrecklichen Schicksalsschlag erlebt und eine ganz fürchterliche Niederlage gegen die Alliierten eingesteckt, die das arme Deutschland in ganz unbegreiflichem Wahn vernichtet hätten.
Sicherlich ist mir gegenüber diese Sicht einer schicksalhaften Gemeinheit, die die „arme deutsche Bevölkerung“ getroffen habe, besonders ausgeprägt nahegebracht worden, weil mein Vater im Krieg als Offizier ums Leben gekommen war und meine Mutter 1943 ausgebombt wurde – da wollte man dem „armen Jungen“ vielleicht eine besonders einfühlsam erscheinende „Mitleidsgeschichte“ erzählen.
Aber auch bei den Elternhäusern von Freunden und Mitschülern hatte ich keinen davon abweichenden Eindruck hinsichtlich ihrer Sicht auf die Ursachen dafür, warum Deutschland so darniederlag bzw. mit dem Kriegsende einen so furchtbaren Schicksalsschlag erlitten habe, aus dem es sich mit strebsamer Mühewaltung der gesamten Bevölkerung langsam herausbewegte.
Wir hatten angesichts des anfänglichen Elends, das wir alle erlebten, durchaus auch schon als Kinder und Jugendliche ständige Veranlassung und Gelegenheit, nach den Ursachen für das hinter uns liegende Kriegsende zu fragen.
Ich habe damals und bis zu meinem Abitur- und Studienalter nahezu nichts darüber gehört, dass Deutschland selbst die Ursache für die europäische Katastrophe gewesen war und andere Menschen anderer Nationalitäten noch viel mehr unter den deutschen Morden und sonstigen Gewalttaten und Terrorangriffen und Kriegsinvasionen gelitten hatten als die deutsche Bevölkerung selbst.
Wenn von Vertriebenen und Flüchtlingen, Kriegsversehrten oder Obdachlosen die Rede war, waren das immer die „armen Deutschen“, die aus Besatzungsgebieten zu uns kamen bzw. getrieben wurden, aber nicht diejenigen Opfer aus anderen Staaten, die durch die deutschen Gräueltaten des Krieges in schlimmster Weise betroffen waren.
Mir scheint, dass diese Einstufung der deutschen Bevölkerung als „Opfer“ auch mit durch den Anfang der 50er Jahre beginnenden Kalten Krieg, die Angst vor einem Atomkrieg zwischen USA und Sowjetunion und durch den Ausspruch von Churchill zu Stalins Politik Anfang der 50er Jahre, es könne sein, dass man mit Hitler „das falsche Schwein geschlachtet“ habe, verursacht worden ist; denn das gab ja ein bisschen Anlass, deutsche Schuld zu relativieren und sich in eine Opfer-Rolle zurückzulehnen.
Besonders beanstandenswert empfinde ich retrospektiv, dass wir auch im humanistischen Gymnasium, das ich besucht habe und das ja der vornehmste Ort der Werte-Vermittlung in unserem Bildungssystem sein soll, im Deutsch- und Geschichts-Unterricht – Staatsbürgerkunde oder Philosophie oder Ethik-Unterricht gab es damals nicht – keinerlei Aufarbeitung der Entwicklung vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und dann zum Nationalsozialismus nahegebracht erhielten.
Nach meinem Verständnis herrschte ein totaler Mangel an moralischer Wertevermittlung und Entnazifizierung, die nicht nur von unserem ersten Bundeskanzler Adenauer, sondern von dem mir überwiegend erscheinenden Teil der Bevölkerung nicht gewollt war: Man wollte nicht wahrhaben, dass das deutsche Volk mit dem von ihm ganz überwiegend nicht nur geduldeten, sondern aktiv geförderten Nationalsozialismus schwere Schuld auf sich geladen hat, und man wollte dementsprechend auch keine ernsthaften Maßnahmen ergreifen, um die ethische Sichtweise des Volkes wieder zu Moral und ein entnazifiziertes Wertebewusstsein zurückzuentwickeln.
Dabei hatte es mit der Schaffung unseres Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und mit den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen unmittelbar nach Ende des Krieges so gut begonnen: Aber es waren einerseits nur die Spitzen der Nazi-Bewegung, die in Nürnberg und in den von den West-Alliierten durchgeführten Entnazifizierungs-Prozessen angeklagt wurden; und es waren andererseits nur die Spitzen der Nazi-Gegner in der Staatskunde, die das Grundgesetz mit seiner wunderbar rigorosen fundamentalen Abkehr vom Nationalsozialismus schufen.
Die Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik und vor allem die Beamten und damit die Lehrer, Richter, Ministerialbeamten und Behördenvertreter blieben dieselben wie im Dritten Reich und ohne jedes ernsthafte Bemühen um neue Werte.
Selbst die Auschwitz-Prozesse und sonstige Gerichtsverfahren über KZs in den 60er Jahren blieben offensichtlich Sonderfälle der Unrechtsaufarbeitung nur gegenüber den leitenden Chargen, aber eben nicht gegen das mitwirkende und überwiegend geistig konform-gehende Volk – seien sie nun Verführte oder selbst von Anfang an Primär-Nazi-Gläubige. So blieben auch diese den Menschen jedenfalls zum Teil die Augen öffnenden Verfahren solche, aus denen nicht für jedermann deutlich wurde, dass Deutschland selbst Täter und die deutsche Bevölkerung zwar Opfer, aber nicht Opfer eines über ihnen hereingebrochenen Schicksals, sondern ihrer selbst waren.
Hätte sich diese Erkenntnis auch Jahrzehnte nach dem Kriegsende allgemein und nicht nur bei Historikern durchgesetzt, wäre die Rede, die unser Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 gehalten hat, nicht auf eine so intensive Resonanz in Deutschland und im Ausland gestoßen, wie das tatsächlich geschah: nämlich mit der Wirkung eines endlich erfolgenden ruckartigen Erwachens; sondern er hätte dann nur Längstbekanntes gesagt.
Gerade so ist aber diese Rede im Bewusstsein des überwiegenden Teils des deutschen Volkes nicht angekommen, sondern als Durchbruch einer endlich deutlich werdenden neuen gebotenen Sicht, als er sagte:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“
Mit dieser epochalen Rede war endlich der Weg frei für Selbsterkenntnis der deutschen Bevölkerung, die allerdings bis heute vor der völlig unbeantworteten Frage steht, wie über viele Generationen gebildet gewachsene Menschen (angeblich ein Volk von „Dichtern und Denkern“) ein solches Unrechts- und Rassismus- und Gewalt-System ersinnen konnten oder sich doch von ihm einfangen ließen und ganz überwiegend bereitwillig mitmachten.
Die Antwort des 8. Mai kann nur sein: „Wehret den Anfängen von Hass und Gewalt“, damit eine solche nationalistische Hass- und Menschen anderer Kultur verachtende Gesinnung nicht erneut wieder wächst und die Welt ins Unglück stürzt. Denn wir haben in den 30er Jahren – retrospektiv betrachtet – ja erlebt, wie schnell aus Gedanken Worte und aus Worten Taten und aus Taten Charaktere und Schicksale einzelner und eines ganzen Staates, auch über seine Grenzen hinaus, werden und zu einer „Umwertung aller Werte“ werden können.
Niemals habe ich die Gefahr einer solchen Entwicklung von den Gedanken über Reden zur schicksals-verändernden Tat so deutlich empfunden wie anlässlich eines Strafurteils des Oberlandesgerichts Hamburg vom März 1935, welches mir kürzlich von einem Zeitzeugen-Freund zur Kenntnis gegeben wurde und welches als einen der Angeklagten seinen eigenen Onkel betrifft:
Hier sind wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ diverse deutsche Staatsbürger zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt worden, und ihnen sind für viele Jahre die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden, weil sie nichts anderes getan haben, als ein im Ausland hergestelltes sozialdemokratisches Arbeiterblatt „Sozialis-tische Aktion“ in 12 Exemplaren an Freunde und Bekannte abzugeben und am Wiederaufbau bzw. Erhalt der SPD im Frühjahr 1934 interessiert zu sein. Das sei Hochverrat, denn – so wird es in dem Urteil begründet:
„Wer heute noch in Deutschland Marxist ist, muss einem inneren Gesetz folgend danach streben, den Nationalsozialismus und die nationalsozialistische Staatsführung zu beseitigen. Seit der Machtübernahme hat sich die nationalsozialistische Staatsführung in immer mehr zunehmendem Maße gefestigt und eine breite Grundlage in der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes gefunden. Eine völlige Abkehr von allen liberalistischen parlamentarischen Grundsätzen der Vergangenheit macht es unmöglich, an dem bestehenden Zustand durch parlamentarische demokratische Methoden ir-gendetwas zu ändern. Wollen heutige deutsche Marxisten ihr Ziel, nämlich die Beseitigung des Nationalsozialismus und die Aufrichtung eines marxistischen Staates, noch erreichen, so bleibt ihnen nur noch der Weg der Gewalt.“
Jeder Sozialdemokrat in Deutschland, der sich – und wenn auch nur durch Verteilen von Flugblättern – „in diese hochverräterische Tätigkeit einspannt, begeht in gleicher Weise Hochverrat.“
Dass 5 hochkarätige Richter, die immerhin noch in der Zeit der Weimarer Republik ausgebildet worden sind und ihren Beruf ausgeübt haben, einen solchen Hass-Ausbruch in ein Urteil hineinschreiben – wohl wissend, dass die Weimarer Verfassung, die immerhin formell auch im Dritten Reich noch galt, die Meinungsfreiheit schützt – kann uns nur bestürzen.
Dies vor allem, wenn man bedenkt, dass das Urteil aus dem Frühjahr 1935 stammt, also gerade erst zwei Jahre, nachdem Hitler und die NSdAP bei den Reichstags-Wahlen um 30% erreicht haben und Hitler nur durch die Auswahl des Reichspräsidenten Hindenburg, die im demokratischen System durchaus auch anders hätte ausfallen können, quasi in einem formellen parlamentarischen Verfahren am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden ist.
So schnell kann also offensichtlich eine Verführung eines Volkes geschehen und durch Gehirnwäsche eine Demokratie in eine Diktatur umgestaltet werden, die ein ganzes Volk und auch ihre Juristen feiern.
Der 8. Mai 1945 hat gezeigt, wo das endet. Ein ganzes Volk muss sich also sogleich gegen beginnende Entwicklungen zur Wehr setzen.
Autor: Rolf Schultz-Süchting