von Astrid Wörn | Ich bin Jahrgang 1954. Ein Nachkriegskind. Ich gehöre zu der Generation 60+. Was bewegt uns, wenn wir von den Entbehrungen der Älteren und Hochbetagten hören? Können und müssen auch wir Jüngeren von Entbehrungen erzählen?
Wir kennen Hunger nur als kurze Empfindung, nicht als nagendes Lebensgefühl. Wir kennen die Kälte aus kalten Wintern, aber nicht die Eisigkeit ausgekühlter Wohnungen, in denen es sich schon bei minus 5 Grad warm anfühlte. Es gab Medikamente für unsere Krankheiten und es gab Sternstunden, in denen die Eltern im Leben ankamen, bei uns waren, mit uns fühlten. Aber das Leben vor uns war von so einer emotionalen Wucht und das Gewesene so mächtig, dass es sich leise und stumm einschlich oder schmetternd auf uns niederging.
Hinter der Geschäftigkeit des Alltags gab es eine Aura dunkler Begriffe, unterdrückter Tränen, nicht genannter Namen. Unsere Väter kamen aus Krieg und Gefangenschaft. Beschädigt an Körper und Seele versuchten sie, zu vergessen, was nicht zu vergessen ist. Welche Bilder verfolgten sie in der Nacht? Plötzliche cholerische Wutausbrüche über Schulnoten oder den falschen Nachtisch, Arbeit, Verein, Besuche am Wochenende: „Papi ist im Hobbykeller, stör ihn nicht!“ Nähe wurde vermieden, tröstende Worte nie gelernt.
Unsere Mütter. Mit Kittelschürze, putzend, waschend, kochend, nähend. Schularbeiten, Musikunterricht, Abendbrot, ab ins Bett. Eine Aura des immer Beschäftigtseins umwehte diese tapferen Frauen, die alles im Griff haben mussten. Wo blieben sie, wo blieben wir?
Ein sonniger Julitag 1962. Die Mutter sitzt nicht am Frühstückstisch, sondern im Luftschutzkeller. Gerade erlebt sie wieder hautnah den Hamburger Feuersturm. Brennende Straßen, rennende Menschen, sie dabei. Körperlich anwesend, seelisch unerreichbar für mich. Manchmal nur für kurze Momente, dann wieder über Stunden oder Tage.
Wie viele emotionale Zwischenräume blieben zurück? Einsame Kinder, die ahnten, dass da ein ewiger Schwelbrand unter dem Dach des modernen Familienlebens loderte, der sich jederzeit zu einem lodernden Feuer ausbreiten konnte ohne äußerlich ersichtlichen Grund. Albträume von brennenden Fahrstühlen. Woher kommen einer Sechsjährigen diese Bilder? Quatsch, blühende Fantasie oder eine intuitive Wahrnehmung erlebter Schrecken der Eltern? Traumata eines ganzen Jahrhunderts, von Generation zu Generation weitergereicht. Hundert Jahre Angst und Schrecken, Tod und Trauer und am Ende eine verstörende Fremdheit zwischen Eltern und Kindern.
Am Ende des Ersten Weltkriegs machte ein Mensch eine Beobachtung. Er sah eine Melancholie in den Augen der Kinder, so als ob sie das Inferno des Kommenden schon in ihren Seelen ahnten. Heute müssen wir mit dem leben, was unsere Eltern, Nachbarn, Lehrer, Ärzte getan oder nicht getan haben. Opfer, Täter, beides in einem Menschen. Wir brauchen eine gehörige Portion Mut, um das alles anzuschauen und auszuhalten.
Wir mussten Lehrer ertragen, die uns ertüchtigen wollten und wehe, ich kam mit meiner geschädigten Wirbelsäule nicht das Seil hoch! Jämmerlich, unsportlich, nicht zu gebrauchen! Ich stand mit glühenden Ohren vor der ganzen Klasse.
Wir mussten uns von Kinderärzten untersuchen und beurteilen lassen, die noch einige Jahre vorher behinderte Kinder mit Luminal aus dem Leben spritzen. Euthanasietäter, die sich nicht selbst die Hände schmutzig machten, sondern anordneten. Was, wenn ich nicht kräftig und gesund daherkam? Es ging um meine Existenz, meine Daseinsberechtigung. Angst bis heute vor jedem Arztbesuch.
Viele meiner Generation, auch ich, führten harte, verurteilende Diskussionen mit den Eltern und deren Freunden. Das war wichtig, weil wir zunächst diese klare Abgrenzung für uns brauchten und die Eltern im besten Fall zuhörten.
Später und durch den Abstand der Jahre konnten wir differenziertere Fragen stellen. Empathie kam erst viele Jahre später dazu, fast zu spät. Ich lernte sie durch die Demenz der Mutter und die Herzensoffenheit meiner Freundin. Denn auch ich hatte kaum anderes gelernt, als mich zu schützen und abzuwehren und meine eigenen Überlebensstrategien zu entwickeln.
Fragen bleiben. Was hätten wir getan und nicht getan? Was tun wir im Angesicht eigener Verletzungen und Entbehrungen? Behutsam mit sich selbst und dem anderen umgehen, der uns vielleicht in einer stillen Stunde Dinge anvertraut, die uns so erschüttern, dass wir sprachlos werden, um danach eine neue Stimme zu finden.
Bach hören, wahrhaftige Gespräche führen, Natur und Tiere schützen und unseren Kindern unsere Geschichten erzählen, bevor es ein erneutes Mal zu spät ist.
Autorin: Astrid Wörn