von Rolf Schultz-Süchting | Die Unwetter-Katastrophe im Juli 2021 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und kurz danach auch die verheerenden Überschwemmungen in Bayern und Sachsen sind für mich Anlass, an die Flutkatastrophe 1962 zurückzudenken, bei der wir nach meinem Empfinden das erste Mal zu unseren Lebzeiten in Deutschland nach dem Krieg eine solche naturbedingte Katastrophe erlebt haben. Damals gab es keinerlei von der Bevölkerung wahrnehmbare Vorankündigung für ein solches Elementar-Ereignis: Es gab lediglich bei der regelmäßig im Radio gemeldeten, aber nur von sehr wenigen Menschen empfangenen, Wasserstandsmeldung eine Mitteilung über einen zu erwartenden gegenüber dem Normal-Hochwasser erhöhten Wasserstand; Fernsehen mit der üblichen Wettervorhersage und etwaiger „Unwetter-Warnung“ – wie jetzt, und wie es auch vor der jetzigen Katastrophe einigermaßen funktioniert hat – war noch nicht Allgemeingut; Handys oder Social-Media-Kommunikation zur Verbreitung von Nachrichten gab es nicht. Ein allgemeines Sirenen-Warn-System war noch nicht eta-bliert.
So traf es mich am 16. Februar 1962 völlig überraschend, dass bei uns zuhause nachts um 4.00 Uhr das Telefon klingelte und ich als damals 17jähriger Schüler vom Technischen Hilfswerk dringend gebeten wurde, zu den Landungsbrücken in den Hafen zu kommen, um von dort aus bei einer immer mehr anschwellenden Überflutung von weiten Teilen des Hafens und vor allem des Stadtteils Wilhelmsburg Hilfestellung zu leisten.
Beim Technischen Hilfswerk war ich als „freiwilliger Nothelfer für Katastropheneinsätze“ registriert, weil ich Leiter einer Jugend-Pfadfindergruppe war. Ich hatte natürlich keinerlei spezielle Schulung oder Erfahrung für solchen Einsatz.
So bin ich denn mit dem Fahrrad bei extrem stürmischem Wetter und Schneeregen zu den Landungsbrücken gefahren. Dort wurde ich eingeteilt in eine Bootsbesatzung eines Schlauchbootes mit Außenbordmotor. Die Besatzung bestand aus einem Polizisten als Leiter und Bootsführer, einem erwachsenen (ebenfalls ungeschulten) Helfer und mir.
Da die Landungsbrücken durch das von der Nordsee hereinflutende Hochwasser schon extrem hochgeschwemmt waren, war es schwierig, das Boot zu erreichen und die uns mitgegebene Ausrüstung auf das Boot zu befördern. Wir erhielten nach meiner Erinnerung nur eine große Leiter und jeder einen Eimer, einen Vorschlaghammer und ein Brecheisen. Außerdem bekam jeder von uns eine Schwimmweste, aber keine sonstige Schutzkleidung.
Der Polizist steuerte uns dann über die mit hohen Wellen aufbrausende Elbe zum Reiherstieg, den man in den Fluten noch erkennen konnte. Danach ging es nach Wilhelmsburg, wo wir in den Fluten eigentlich keine Straße, sondern nur Dächer und Rest-Häuser (ab dem Obergeschoss) zwischen schwimmenden und watenden Menschen und treibenden Möbeln und sonstigem Hausrat erkennen konnten. Autos, die bei dem jetzigen Hochwasser als herumtreibendes Gut eine große Rolle spielen, gab es damals in Wilhelmsburg fast gar nicht.
Wir konnten in das Gummiboot noch drei weitere Menschen aufnehmen und haben uns bemüht, Menschen von den Dächern der kleinen Häuser zu holen. Bei der Dunkelheit und bei extrem schwankendem Gummiboot mit der auf dem Boot wackelig aufstehenden Leiter war dies ein extrem gefährliches und mühseliges Unterfangen.
Dabei bin ich mit dem mir zugewiesenen Brecheisen auch in ein Haus gelangt, in dem ich auf einem Tisch einen leblosen Menschen erkannte. Auf diesem saßen zwei Ratten, auf die ich – so sinnlos und, nachträglich betrachtet, gefährlich das auch war – instinktiv mit dem Brecheisen draufgeschlagen habe. Eine Ratte traf ich tödlich, die andere rannte weg. Bei nachträglicher Untersuchung stellte man zu meinem Glück fest, dass der Mensch schon vorher tot war, aber ich hätte ihn in meinem blinden Wahn durchaus auch erschlagen können. Was tut man nicht alles in seinem aufgewühlten Gefahren-Rausch in Extrem-Situationen und bei Überforderung der Kräfte!
Aber wir haben immerhin in unseren klatschnassen und natürlich dadurch auch – insbesondere bei Temperaturen um die null Grad – sperrigen Klamotten drei Menschen von Dächern gerettet und konnten sie lebend zu den Landungsbrücken zurückbringen.
Ich erzähle diese Geschichte aus drei Gründen:
Zum einen ist deutlich, wie sinnlos und auch gefährlich man in emotional aufgewiegelter und erschütterter Lage reagieren kann, weshalb es geboten ist, sich möglichst während des „Normal-Alltags“ ein bisschen auf denkbar kommende schwierige Situationen vorzubereiten (von der Gefahr einer Traumatisierung, an die damals kein Mensch gedacht hat, mal ganz abgesehen. Nicht einmal der Begriff als solcher war uns geläufig).
Zum anderen, weil ich es eindrucksvoll fand, wie während der 1962er Flutkatastrophe unser damaliger Hamburger Innensenator Helmut Schmidt bei seinen z.T. recht rigorosen und handgesteuerten Maßnahmen sich mehrfach spontan und später auch auf entsprechende Nachfragen sinngemäß dahingehend äußerte, er könne nicht in einer katastrophalen Gefahrenlage und in Ansehung von mehr als 300 Toten und in dem Bemühen, weitere Vermisste, Tote oder Verletzte noch zu finden, ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Dies wurde später in vergleichbaren Situationen zum „geflügelten Wort“. Er müsse situationsbedingt die ihm geeignet erscheinenden Maßnahmen auch mal spontan anweisen können.
Recht hatte er, und für unsere heutige ständige Diskussion, welcher staatliche Eingriff in welcher Situation angemessen ist – nachträglich ist man ja immer klüger – und welche Institution dafür zuständig sein sollte, könnte das manchmal durchaus ein Vorbild sein. Gleichwohl ist es natürlich in unserem demokratischen Rechtsstaat sehr wohl gerechtfertigt, Maßnahmen oder Unterlassungen zu hinterfragen, um verfassungsrechtlich abgesicherte Vorsorge für etwa auftretende Fälle zu diskutieren.
Solche Diskussionen machen ja gerade das Besondere einer Demokratie aus. Aber sie sollten auch mit Toleranz gegenüber abweichenden Auffassungen und nicht mit der aufgesetzten Attitüde, man habe selbst mit seiner Auffassung den Stein der Weisen gefunden und jede andere Meinung sei abwegig oder gar verfassungswidrig, geführt werden.
Und schließlich will ich bei dem Vergleich der damaligen mit der heutigen Flutkatastrophe auf folgendes hinweisen: Wir sind zwar heute mit einer Fülle von Kommunikations-Möglichkeiten deutlich besser in der Lage, Gefahren wie Natur-Katastrophen vorauszusagen und vorsorgliche Maßnahmen zu ergreifen. Aber viele Menschen sind wohl gar nicht willens, sich daran in ihrem täglichen Verhalten zu orientieren, weil sie Gefahren zwar sehen könnten, sie aber nicht sehen, oder sie jedenfalls nicht sehen wollen.
Wir sind wohl schlecht geschult darin, unser tägliches Leben wissenschaftlichen Erkenntnissen und Vorhersagen entsprechend umzugestalten – nach dem Motto: Die Gefahr ist ja sehr weit weg, und für mich wird es schon gutgehen!
Ob wir bei dieser Sichtweise so sehr viel weitergekommen sind als bei der damaligen Flutkatastrophe 1962, die uns völlig überraschend getroffen hat, und die damals als „Jahrhundertereignis“ bezeichnet wurde, erscheint mir immerhin fraglich. Zwar nehmen diese sogenannten „Jahrhundertereignisse“ offenkundig zu (und sind eben nicht mehr so selten, dass diese Bezeichnung gerechtfertigt sein könnte), aber ob wir daraus immer die richtigen Erkenntnisse ableiten?
Und den Verachtern der Theorie der menschengemachten Klima-Veränderung könnte man zurufen: Es ist doch letztlich völlig gleichgültig, ob die Klimaveränderung nun von den Menschen bewirkt worden ist oder nicht.
Jedenfalls ist sie doch offenkundig da und gefährdet uns alle mit ihren für die Gesamt-Menschheit mehr und mehr sichtbaren katastrophalen Auswirkungen. Dem sollten wir entgegenwirken, um uns selbst und vor allem unsere Nachkommen besser zu schützen.
Mir scheint: Die Geschichten des Kampfes gegen Naturgewalten, die die Menschen gefährden, wiederholen sich auch bei fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis und wachsenden technischen Möglichkeiten. Lernen wir daraus?!
Autor: Rolf Schultz-Süchting