von Manfred Hüllen | Vom 13.04.1961 bis zum 22.09.62 besuchte ich die Fachhochschule in Weidenau/Siegerland. Ich war fast 22; mein Ziel war das Fachabitur. Nach ein paar Tagen wollte Herr Körtner, unser Klassenlehrer, dass ein Klassensprecher gewählt werde – die Wahl fiel auf mich.
In der zweiten Woche hatten wir in der ersten Stunde Englisch. Der Lehrer betrat das Klassenzimmer mit einem sehr lauten: „Guten Morgen!“ Wir antworteten ihm, jeder auf seine Art.
Das gefiel dem Lehrer überhaupt nicht. Er brüllte laut: „Aufstehen!“ – was wir auch befolgten. Dann sagte er, abermals sehr laut im Befehlston: „Jetzt sagen Sie alle noch mal laut ‚Guten Morgen, Herr Lehrer‘.“ Wir machten es, aber es gefiel ihm ganz und gar nicht. Er beendete die Sache mit dem Kommentar: „Das muss noch geübt werden!“
In der Pause suchte ich das Gespräch mit ihm und brachte seinen, aus meiner Sicht falschen, Auftritt zur Sprache. Ich sagte ihm: „Wir sind zwischen 18 und 56 Jahre alt, und die meisten haben einen abgeschlossenen Beruf.“ Daher sei es völlig ausreichend, wenn wir seinen Morgengruß sitzend erwidern würden, und sein Befehlston sei unangebracht. Darüber hinaus hätten wir drei körperlich Behinderte – Zweien fehlte ein Bein, und ein Dritter hatte durch ein Straßenbahnunglück anderthalb Beine verloren. „Diese Männer unnötig zu veranlassen aufzustehen ist falsch!“
Er war außer sich und machte Einträge in das Klassenbuch. Die Aktion wurde dann im Lehrerzimmer intensiv diskutiert mit dem Ergebnis: Der Schulleiter teilte uns mit, „dass es selbstverständlich reicht, den Gruß zu erwidern und dabei sitzen zu bleiben.“ Von Stund an waren wir – der Lehrer und ich – nicht „die besten Freunde“. Bei meinen Klassenkameraden kam dies jedoch recht positiv an und so blieb ich 3 Semester lang ihr Interessenvertreter.
Ein weiterer Vorfall sorgte erneut für Aufsehen. Wieder war es die erste Stunde, doch der Englischlehrer hatte wohl eine Straßenbahn verpasst und betrat die Klasse verspätet. Nach ihm aber kam noch ein Schüler und entschuldigte sich mit den Worten: „Hab die Straßenbahn verpasst!“ Der Lehrer wurde zornig und sagte, auf den Schüler deutend: „Das ist der Unterschied: Ich bin gerannt, um meine Verspätung in Grenzen zu halten, aber dieser Schüler kommt erst jetzt – weil – weil er eben bummeln musste!“ Daraufhin sagte ich: „Der Schüler bekommt ja auch keine Bezahlung für seinen Schulbesuch!“
Na, da war aber was los! Wieder ein Eintrag ins Klassenbuch, aber das Gelächter der Klasse wird dem Englischlehrer noch lange in den Ohren geklungen haben. Zur Erklärung: Dieser Lehrer war im Zweiten Weltkrieg Pilot gewesen. Er trug nach wie vor Breecheshosen mit Schaftstiefeln und bevorzugte den Befehlston. Zum Glück war er innerhalb der Lehrerschaft der einzige Altnazi.
Chemielehrer Dr. Behnke. Ein weiterer Vorfall in unserer Schule ereignete sich während der Pause. Ein etwa zehnjähriger Schüler wurde von diesem Lehrer geschlagen, und zwar nahm Behnke seinen eigenen Schuh und schlug damit dem Jungen auf den Kopf. Ich hatte das beobachtet, sprach mit einem Klassenkameraden den Schüler an und fragte, was er denn getan habe. Er sagte, er habe nach dem Schlag zu dem Lehrer gesagt: „Das sage ich meiner Mutter, du blöder Lehrer!“ Ich fragte ihn: „Hast du Kopfschmerzen?“ Er nickte. Da ich mein Auto in der Nähe hatte, fuhr ich ihn zu einem praktischen Arzt. Er wurde sofort behandelt, und der Arzt meinte, der Junge habe vermutlich eine Gehirnerschütterung. Daraufhin habe ich den Jungen nach Hause gefahren und der Mutter den Sachverhalt mitgeteilt.
Am folgenden Tag ging sie in die Schule und verlangte, den Schuldirektor zu sprechen. Ich wurde später von ihm über den Vorfall befragt, ebenso mein Kollege.
Zwei Wochen später erfuhren wir, dass unser Chemielehrer Dr. Behnke die Schule verlassen musste. Da dieser in unmittelbarer Nachbarschaft von uns wohnte, bekamen wir den Grund mit. Es hieß, er sei aus gesundheitlichen Gründen aus dem Schuldienst entlassen worden, der Grund sei psychischer Natur. Heute würden wir vermutlich von einem Burnout sprechen.
Geschichtslehrer Dr. Weiss. Dieser Lehrer hat mein Leben sehr stark positiv beeinflusst. Er wurde 1942 von den Nationalsozialisten „wegen Führerbeleidigung und Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt. Er kam ins Strafgefängnis Berlin-Plötzensee, in die Todeszelle. Da er ein sehr, sehr kluger Mann war, spielte er den „geistig Verwirrten“ und machte dies ebenso perfekt wie humorvoll, so dass es seinen Bewachern gefiel. In seiner Zelle schrieb er seine Erlebnisse in ein Tagebuch. Man ließ ihn gewähren – wusste man doch: Über kurz oder lang würde er am Galgen hängen. Dr. Weiss hatte jedoch großes Glück. Gegen Ende des Krieges ging alles drunter und drüber. Womöglich hatte man ihn vergessen. Er kam mit dem Leben davon!
In der ersten Geschichtsstunde fragte er die Klasse: „Soll ich den Stoff durchgehen wie im Lehrplan vorgeschrieben, oder wollen wir gemeinsam jeweils ein Kapitel meines Tagebuchs aus der Todeszelle vorlesen und dies mit der Lehrplanvorgabe verknüpfen?“ Welch eine Frage! Wir alle waren für die Tagebuch-Variante.
Da seine Schwester die Äbtissin des Karthäuserklosters Kalteiche in der Nähe von Siegen war, bat sie ihren Bruder: „Deine Klasse könnte doch ein Stück Wald roden, was meinst du?“ Wir machten das sehr gern, und so bekamen wir einen Einblick in ein Schweigekloster. Zum Glück durften einige Schwestern mit uns reden.
Zum Dank fürs neue Gartenteil – ca. 30 mal 20 Meter – bekamen wir ein Kloster-Essen spendiert, eine köstliche Suppe nebst selbstgebackenem Klosterbrot und hausgemachtem Ziegenkäse mit selbst hergestellter Butter.
Nach 3 Semestern konnten wir unsere Prüfungen ablegen, und ich war heilfroh, neben 11 Mitschülern, gestartet waren wir mit 32, die Prüfung bestanden zu haben.
Endlich hatte ich mein Fachabitur in der Tasche!
Jetzt würde ich Maschinenbau studieren, doch es kam anders. Aber das ist eine andere Geschichte.
Autor: Manfred Hüllen