von Ingetraud Lippmann | Nach unserer Flucht aus Königsberg 1945 kamen wir nach Kehdingen in Niedersachsen, zwischen Stade und Cuxhaven.
Wir bekamen es viele Jahre nach unserer Flucht im eigenen Lande noch deutlich zu spüren. Einige Beispiele:
- Wir wohnten beim reichsten Bauern und mussten uns etwa ein Jahr lang unsere Milch beim Nachbarbauern kaufen.
- Viele einheimische Kinder, aber auch viele Erwachsene, beneideten uns, wenn wir gut und sauber gekleidet waren. „Die Flüchtlinge brauchen ja nur zur Kleiderkammer zu gehen und sich dann etwas Gutes auszusuchen.“
- In der Schule hatten wir es sehr schwer. Da nicht genügend Schulbücher vorhanden waren, bekamen die Kehdinger Kinder die Bücher mit nach Hause.
- Die meisten vom Krieg übrig gebliebenen Lehrer waren zu uns Flüchtlingskindern sehr ungerecht, denn nur von den Eltern der Bauernkinder bekamen sie große Fresskörbe ins Haus gebracht, damit ihre Kinder bessere Zensuren bekamen. Wir dagegen hatten nur uns selbst, unseren Fleiß und unsere Freundlichkeit zu bieten.
- Wenn wieder zu hören war, dass noch einige Flüchtlinge kommen sollten, hieß es: „Es kommen noch mehr Polacken.“ Eigentlich waren wir ja auch Deutsche und kamen aus Deutschland, nur eben aus dem Osten von Deutschland.
- Die ersten verstorbenen Flüchtlinge wurden am Rande des Friedhofs begraben, nämlich auf dem Hundefriedhof.
Ich muss aber gerechterweise sagen, dass nicht alles schlecht war. Die Menschen, die selbst keine großen Reichtümer besaßen, kamen freundlich auf uns zu und waren sehr hilfsbereit, denn sie konnten wohl gut nachempfinden, Haus, Hof, Heimat und Familie zu verlieren. Für uns war es immer das Wichtigste: Wir leben!
Wir fanden die Schulspeisung sehr Hunger stillend und wohltuend. Ab Herbst 1945 mussten wir Kinder wieder zur Schule. Da wir durch die vielen Angriffe oder durch unsere Flucht und durch Tieffliegerbeschuss sehr viele Schulmonate versäumt hatten, wurden in ganz Deutschland alle Klassen zurückversetzt. Wir begannen jetzt das neue Schuljahr im Herbst. Das war eine ganz gerechte Sache. Alle Kinder, besonders die Flüchtlingskinder, waren total unterernährt. Deshalb wurde nach dem Krieg eine Schulspeisung, die Schwedenspeisung, eingerichtet. Jedes Kind musste täglich ein Gefäß mit Löffel zur Schule mitbringen. Es gab dann meistens irgendeine Suppe, oder zwischendurch auch mal nur eine große dicke Scheibe Brot, die noch dicker mit Quark bestrichen war. Manchmal bekamen wir Grießsuppe mit Rosinen, die wir alle am liebsten mochten.
Gelegentlich war es auch sehr lustig in der Schule. Es sollte etwas Plattdeutsches vorgelesen werden. Da waren die Flüchtlingskinder natürlich im Nachteil. Ich kam dran, „Lütt Matten de Hos“, vorzulesen. Die Zunge habe ich mir fast abgebrochen, die Mitschüler sind vor Lachen beinahe von den Bänken gefallen, und mir war das schrecklich peinlich. Als ich mit meinem ersten Zungenbrecher fertig war, haben wir gemeinsam gelacht.
Auf dem Hof, auf dem wir wohnten und ich als Zehnjährige tüchtig im großen Haushalt gearbeitet habe, mussten die Flüchtlinge einige neue Ausdrücke lernen. Dass das „Fatuch“ ein Putztuch, der „Leuwagen“ ein Schrubber, der „Feudel“ ein Wischtuch und die „Handeule“ der Handfeger war, habe ich lange und oft verwechselt. Das waren zwischendurch lustige Begebenheiten.
In Klasse 5, neu in der Mittelschule, mussten wir unserem Musiklehrer als Erstes vorsingen, damit er feststellen konnte, welche Stimmlage wir hatten. Alle guten Stimmen nahm er in den Kinderkirchenchor. Ich war dabei, und wir durften ihn alle von Anfang an Bobbi nennen. Das war etwas Besonderes für uns. Gleich stieg unser Ansehen bei den Einheimischen. Plötzlich wurden wir in Freiburg (an der Elbe) und Umgebung so etwas wie berühmt. Danke für die schöne Zeit im Kirchenchor!
Bald nahte das Ende der Schulzeit. So wie wir in der Mittelschule größte Schwierigkeiten mit der Vergabe der Schulbücher hatten, setzte es sich nach der Schulzeit in anderer Form fort. Um eine Lehrstelle zu bekommen, mussten wir ja auch eine Bewerbung und einen Lebenslauf schreiben. In unseren Lebenslauf gehörte natürlich die Angabe: Woher und wann geflüchtet, und dass wir außerdem den Flüchtlingsausweis „A“ besaßen. Die Bewerbungen der Flüchtlinge kamen fast alle mit ablehnender Antwort zurück. Auch der Grund für die Absage war immer der Gleiche. Man bevorzuge jemand aus der Familie oder vorzugsweise aus dem Freundeskreis. Und überhaupt sei der Ausbildungsplatz schon vergeben. Dafür müssten wir Verständnis haben.
Das machte mich nach vielen Versuchen ganz mutlos. Deswegen beschloss ich, mich nach Hamburg hin zu bewerben. Nach einigen Tagen erhielt ich eine Zusage und wohne seit 1953 in Hamburg. Hier fühle ich mich wohl, denn hier habe ich meine neue Heimat gefunden.
Ich wollte mit diesem Bericht einige meiner Erlebnisse schildern, und meine Gefühle zum Ausdruck bringen. Die Ablehnung und das herzlose Verhalten einiger Menschen uns Flüchtlingen gegenüber ist von mir längst verziehen.
Autorin: Ingetraud Lippmann