von Ingeborg Schreib-Wywiorski | An die Wohnung meines Großvaters kann ich mich kaum erinnern, nur an ein mit dunklem Holz umbautes Sofa, über dem die gesamten deutschen Klassiker standen. Und an „Die grüne Reihe“, Meyer`s Klassiker-Ausgaben um 1895, die seltsamerweise bei der Zerstörung seiner Wohnung gerettet wurde. Als Schülerin und Studentin ersparte sie mir so manchen Gang in eine öffentliche Bücherei. Sie sollte mich durch alle guten und schlechten Zeiten meines Lebens begleiten. Heute steht sie am Ende meines Sofas und irgendwie ist ihr Anblick für mich immer etwas Tröstliches und Verheißungsvolles.
Geblieben ist mir auch ein kleiner Band von Heines „Harzreise“. Viel, viel später, das musste ich beschämt feststellen, fand ich darin eine Widmung von meinem Opa an mich. Da war er schon lange tot.
Mein Großvater, Ernst Andres, stammte aus Bautzen und hatte seine Frau auf der Walz (viele Handwerkergesellen haben einige Wanderjahre eingelegt) in Lörrach kennen- und lieben gelernt. Er war bis an sein Lebensende ein überzeugter Sozialist, wie meine Mutter auch.
An seine Frau, diese Oma, erinnert mich nur noch ein Foto (siehe rechts) und ihre Beerdigung, denn sie starb bereits l942 an Unterleibskrebs, wie meine Mutter mir später berichtete. Ich durfte mit zur Beerdigung. Ich konnte glücklicherweise nicht wissen, wie viele noch folgen sollten bis heute.
Während des Krieges wurde mein Opa mit Tante Anna, seiner Schwester, ausgebombt. Beide zogen zu uns nach Steglitz in die in meiner Erinnerung große 3-Zimmerwohnung.
Mit ihrem Zuzug änderten sich auch unsere Tischsitten. Denn Tante Anna war sehr fromm, und so mussten wir immer vor dem Essen beten. „Lieber Gott, wir danken Dir, dass Du uns dieses schöne Mahl beschert hast.“ Das machte meine Mutter immer sehr böse, und wenn Tante Anna nicht da war, fauchte sie empört: „Soll sie lieber mir danken, schließlich habe ich alles zusammengehamstert.“
Aber ohne Tante Annas Mithilfe hätten wir die schweren Nachkriegsmonate und den kalten Winter 1946/47 nicht so gesund überstanden. Tante Anna kannte sich nämlich mit Kräutern und allen anderen nützlichen Notwendigkeiten des täglichen Lebens aus, die meiner Mutter als Städterin völlig fremd waren. Sie lehrte uns, wie gut Brennnesseln schmecken können. Als es nach dem Krieg kaum etwas zu essen gab, ging sie täglich in den Stadtpark und pflückte frisches Grün für Salate oder als Spinatersatz.
Und sie wusste, wie man aus Eicheln Kaffee brennen kann. Aber der fand weniger Anklang.
Dafür konnte sie Rosen für die Tabakblätter meines Opas im Balkonkasten züchten. Es gelang ihr sogar, essbare Tomaten heranreifen zu lassen. Alles Dinge, für die meine Mutter, die Großstädterin, weder einen Sinn hatte noch irgendein Talent besaß.
Im kalten Winter 1946/47 war Tante Anna, „die alte Jungfer“, wie meine Mutter immer verächtlich sagte, diejenige, die wusste, wie man Holz oder Kohlen in dem kleinen eisernen Ofen zum anhaltenden Brennen brachte. Sie erwärmte damit das einzig beheizbare Zimmer für uns alle oder gar den Kohleherd, der zufällig noch in der Küche neben dem Gasherd stand.
Aber Tante Anna konnte auch wirklich etwas perfide sein: Heute glaube ich, es war ihre Art der kleinen Rache gegenüber dem Unverständnis ihrer Nichte an ihrem unbeugsamen Glauben.
Von Tante Anna erfuhr ich eines Tages, als es wieder darum ging, ob ich mit ihr zum Gottesdienst ins Gemeindehaus ging oder nicht – die Kirche war ausgebombt – dass dieser Unglaube im Hause kein Wunder sei. Ich sei das beste Beispiel. Denn ich sei ja nur im Konkubinat gezeugt! Also kein Kind einer vom Gott anerkannten und gesegneten Ehe!
Oh weh! Da war was los. Meine Mutter heulte, der Opa tobte, und alle versicherten mir, dass meine Eltern wirklich echte Eltern seien und ich natürlich auch ein Kind Gottes, nur seien sie eben nicht kirchlich getraut. Weil mein Vater katholisch und meine Mutter evangelisch getauft worden waren. Aber sie wollte nicht katholisch getraut werden und mein Vater wollte nicht Protestant werden. Beide wollten der vor dem Eheschluss bis ins Intime gehenden Befragungen des katholischen Priesters oder evangelischen Pfarrers entgehen. Das hatte, wenn schon Gott, nur ihn etwas anzugehen.
Meine bereits 33-jährige Mutter war nicht gewillt, einem Kirchenmann Auskünfte über ihr Sexualleben zu erteilen. Also wurde 1934 nur standesamtlich geheiratet. Und natürlich bestand meine Mutter darauf, dass „ihre“ Kinder ebenfalls protestantisch getauft wurden. Taufe musste sicherheitshalber sein, man weiß ja nie, was der liebe Gott mit uns vor hat! Und so geschah es. Doch eine stärkere religiöse Erziehung erfuhr ich nicht. Das änderte sich, als Tante Anna mich jeden Sonntag mit in die Kirche nahm und meine Mutter besorgt mit ansah, wie ich immer frommer wurde in ihren Augen … Aber wenn ich jedes Jahr zu Weihnachten vor der Bescherung die Weihnachtsgeschichte aufsagte, waren alle immer gerührt, wie fabelhaft ich das hinkriegte.
Irgendwann hatte meine Mutter genug mit meinen Bibelsprüchen und Gebeten. „Ob ich vielleicht genau so eine alte Jungfer wie Tante Anna werden wolle, wenn ich so weitermache“, lästerte sie. Immerhin war ich gerade zwölf Jahre alt. Und nein, das wollte ich nicht.
Also ging ich nicht mehr sonntags in die Kirche und das passte mir auch ganz gut, denn durch die beginnende Pubertät wurde mir vom ständigen Aufstehen und Wiederhinsetzten zwischen den Gebeten erst schwindlig und dann richtig schlecht.
Ich weiß heute nicht mehr, wann mein Großvater starb und wann Tante Anna ins Altersheim ging, in dem sie schließlich viele Jahre später starb.
Als wir 1953 nach Darmstadt zogen, waren die Großeltern bereits alle tot.
Autorin: Ingeborg Schreib-Wywiorski