von Walter Schmidt | Zur Zeit des Kriegsbeginns war ich knapp 9 Jahre alt. An welche Ereignisse aus dieser Zeit kann ich mich noch erinnern? Sicher nicht an bestimmte Daten, sondern an solche Ereignisse, die neu und ungewöhnlich waren. Und dazu muss ich erst einmal erzählen, was denn „normal“, also alltäglich war.
Also ich bin in Leck geboren und aufgewachsen. Leck ist ein Dorf ca. 17 km südlich der dänischen Grenze. Es wurde im Jahr 1231 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Es hatte in den 30er Jahren etwa 2.000 Einwohner. Leck war ein so genannter „Marktflecken“. Das heißt, es war der Zentralort in einer ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Gegend. Industrie gab es bei uns nicht.
Einmal in der Woche war Markttag, dann kamen Bauern aus umliegenden kleinen Dörfern nach Leck, um dort alle möglichen Geschäfte zu erledigen. In erster Linie wurde natürlich mit Vieh aller Art gehandelt. Kleinvieh wurde mit Bauernwagen transportiert, Großvieh musste selber laufen. In Leck konnte alles Mögliche erledigt werden. Dort gab es Handwerker (für Bauern besonders wichtig: die Schmiede, Hufschmiede und Stellmacher), Geschäfte aller Art, Ärzte, Apotheke, Mühlen, Rechtsanwälte, Gericht, Finanzamt, Banken usw. Und natürlich viele Gastwirtschaften, denn wenn Geschäfte gemacht worden waren, dann mussten diese auch begossen werden.
Etliche Gaststätten und Hotels hatten Durchfahrten, Höfe und Ställe. Eine Durchfahrt ist eine Passage im Haus, durch die ein Gespann durchs Haus hindurchfahren kann. Auf der Hofseite wurden dann die Wagen abgestellt, die Pferde ausgespannt und in den Stall gebracht. Dafür gab es jeweils einen Stallknecht, der beim abspannen oder einspannen half und die Tiere versorgte. Bauern, die nichts Großes transportieren wollten, kamen vielfach mit ihren Gigs. Ein Gig ist ein einachsiger Wagen (Einspänner) für den Personentransport. Bei schlechtem Wetter wurden die Gigs in der Durchfahrt abgestellt. So waren die Markttage die wichtigsten Ereignisse im Ort, für uns Kinder immer interessant.
Wir wohnten in einem Haus im ersten Stock. Im Erdgeschoss waren eine Anwaltskanzlei und ein Frisörsalon mit Geschäft (Kosmetika, Tabakwaren, Kondome etc.). Der Frisör, Herr Kolz, wohnte im zweiten Stock. Mein Vater war Bürovorsteher beim Rechtsanwalt.
An den 1. September 1939 erinnere ich mich natürlich nicht mehr. Was immer in der Welt geschah war ja auch weit weg. Wir lebten sozusagen am „Arsch der Welt“. Aber irgendwann im September wurde Herr Kolz eingezogen. Er musste sich stellen in Bredstedt. Zum Abschied hat seine Frau ihn dort nochmals besucht.
Herr Kolz war einer der wenigen Besitzer eines privaten PkW, und deshalb konnte Frau Kolz den Werner mitnehmen und auch mich. Es war wohl meine erste Autofahrt. Aber auf der Rückfahrt wurde mir so schlecht, dass ich mich aus dem geöffneten Autofenster übergeben musste. Das hinterließ natürlich Spuren am Auto.
Mein Vater wurde nicht eingezogen, weil er wegen einer schweren Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg nicht kv (= kriegsverwendungsfähig) war. Dafür wurde er dienstverpflichtet zur Arbeit im Finanzamt.
Irgendwann gab es auch die ersten Lebensmittelkarten.
Und wir mussten verdunkeln. Das heißt, es durfte kein Licht mehr aus den Häusern nach draußen dringen. Wir haben dazu Decken vor die Fenster gehängt und von außen kontrolliert, ob auch kein Licht mehr zu sehen war. Es war zu Anfang recht mühsam, alles wirklich lichtdicht zu kriegen. Später gab es dann spezielle Verdunklungsrollos aus schwarzem Papier.
In einer Ecke des Viehmarktes wurden ein paar Holzbaracken aufgebaut mit einem Zaun herum für polnische Kriegsgefangene.
Und dann geschah etwas sehr Wichtiges: Am Ortsrand von Leck wurde ein Flugplatz für die deutsche Luftwaffe gebaut. Dazu kamen zuerst einmal eine Menge Arbeiter. Die wurden zunächst untergebracht in einem Saal eines Hotels, in dem sonst kulturelle Veranstaltungen stattfanden.
Als Erstes mussten sie ein Barackenlager für sich aufbauen. Dafür hatte man ein sumpfiges Gelände ausgesucht. Um dort Baracken aufstellen zu können, wurde der Sumpf gesprengt. Na, das war ja etwas, was wohl keiner je erlebt hatte. Zum Zeitpunkt der Sprengung hatten sich viele Leute in angemessenem Abstand auf dem Gallberg versammelt. Und dann ein Knall, und eine schwarze Wand von Dreck stieg in die Luft. Also das war ja ein tolles Erlebnis.
Später kamen dann immer mehr Arbeiter, und immer mehr Barackenlager wurden an allen Ecken des Ortes gebaut (auch für den Reichsarbeitsdienst).
Und es kamen Baumaschinen, z. B. Bagger mit Raupenfahrwerk. Ich hatte ja noch nie einen Bagger gesehen. Die Dinger kamen mit der Bahn, wurden am Bahnhof entladen und mussten dann den Ort zur Baustelle durchfahren.
Aber sie hatten keine Lenkung. Das heißt, sie konnten wohl vorwärts und rückwärts fahren, aber nicht um Kurven. Bei der Fahrt durch den Ort mussten aber auch Kurven gefahren werden. Man hat dazu vor die kurveninnere Raupe Holzbalken gelegt, auf denen die Raupe dann so lange rutschte, bis die Kurve geschafft war. Hinter der Raupe kamen die Balken dann ziemlich ramponiert wieder heraus. Das waren für mich ganz spannende Ereignisse.
Natürlich hatte der Flugplatz wirtschaftlich eine große Bedeutung für Leck. Er hat das Leben im Ort total bestimmt. Vor allem aber hat er aus dem friedlichen Leck ein militärisches Angriffsziel gemacht. Deshalb mussten wir fortan mit der Angst vor Luftangriffen leben. Zum Glück wurde der Flugplatz nur einmal von amerikanischen Jägern mit Bordwaffen angegriffen. Aber das war viel später – nicht zu Kriegsbeginn.
Autor: Walter Schmidt