von Claus Günther | Die verstorbenen Eltern oder Großeltern danach zu fragen, warum sie geschwiegen haben zu den Untaten der Nazis, warum sie mitgelaufen sind oder gar mitgemacht haben, ist ärgerlich, denn es lässt sich nicht mehr nachholen. Aber ich habe ja sogar nachgefragt, als sie noch lebten! Etwa bei Geburtstagen oder auch an Weihnachten, also immer bei Familienfeierlichkeiten. Doch stets bekam ich zur Antwort: „Ach, sei doch ruhig. Davon will doch keiner mehr was hören!“
Ich glaube, das ging vielen so, die bei Kriegsende noch Kinder oder Jugendliche gewesen sind (ich war damals 14). Es hat lange gedauert, ehe ich begriffen habe, dass Scham oder Angst den Älteren den Mund verschlossen hat. Noch länger dauerte es, bevor ich imstande war, mich in deren Lage hineinzuversetzen und mich zu fragen: Was hätte ich denn an ihrer Stelle gemacht, wie hätte ich gehandelt, hätte ich womöglich Widerstand geleistet?
Ralph Giordano schrieb zu seinem Buch „Die zweite Schuld“: Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Gemeint sind damit all jene, die Schuld auf sich geladen hatten, aber nicht verfolgt oder gar angeklagt wurden, sondern in Amt und Würden blieben.
Natürlich sind damit nicht die so genannten Mitläufer angesprochen geschweige „der Mann beziehungsweise die Frau von der Straße.“ Und doch war es vor allem deren Schweigen, also das Schweigen der Massen, das den Aufstieg von Hitler und Konsorten überhaupt erst ermöglicht hat.
Zweierlei Schuld also … Heute frage ich mich manchmal, ob ich selbst nicht intensiver, bohrender und präziser meine Frage nach dem Mitlaufen und Mitmachen an die ältere Generation hätte stellen müssen. Es ist ja so leicht, das Schweigen der Anderen zu verurteilen. Dabei sind wir selbst doch auch „die Anderen!“ Doch wie schwer ist es für uns heute alt gewordenen Menschen, selbst die Stimme zu erheben und sich – das heißt uns – Gehör zu verschaffen? Hätten wir das, gerade wir Jugendlichen von einst, nicht längst tun müssen, gerade angesichts etlicher extremer Auswüchse und Missetaten?
Wenn ich sehe, welche Parolen heute bei Demos gezeigt und gebrüllt werden, würde ich am liebsten die gleichzeitig präsentierten deutschen Flaggen an mich nehmen, um sie zu schützen.
Autor: Claus Günther