von Lore Bünger | Im Juli 1949 machten Karl-Jürgen und ich unseren ersten gemeinsamen Urlaub in Bevensen. Kurze Anreise, billige Unterkunft, das war kurz nach der Währungsreform sehr wichtig für uns. Freunde hatten uns von der „Görde“ vorgeschwärmt, einem riesigen Waldgebiet nahe Bevensen. Dorthin fuhr der Kaiser zur Jagd, und auch Hindenburg soll da hinter Schwarzkitteln her gewesen sein. Einige Tage nach unserer Ankunft in Bevensen sahen wir im Ort ein Plakat: Autobusfahrt in die Göhrde: Montag, 11. Juli 1949, 6 Uhr ab Kirchplatz, Fahrpreis: DM 1,10 hin und zurück.
Wir holten uns in dem dortigen Verkehrsbüro zwei Karten. Das war damals ein tolles Angebot für eine Autobustour. Es wurde aber die Einschränkung gemacht, dass die Tour ausfällt, wenn sich nicht 50 Personen anmelden würden. Auf jeden Fall würde aber „Franzen“ fahren. Hmm? „Wer ist das?“ fragte ich. „Ein anderes Autounternehmen.“ – „Und wir bekommen bestimmt einen Sitzplatz?“ „Ja, selbstverständlich.“ Die Fahrt sollte eine dreiviertel Stunde dauern und bei einem Café wäre ein längerer Aufenthalt.
Am Montag ließen wir uns um 5 Uhr wecken – und das im Urlaub! Rechtzeitig standen wir auf dem Kirchplatz.
Um 6.10 Uhr war noch kein Bus in Sicht. Plötzlich hörten wir ein „tuff-tuff-tuff“. Ein Trecker knatterte heran, der einen offenen Anhänger hinter sich herzog. Bei jedem „tuff“ drohte er auseinander zu brechen. Auf diesem Ding thronten 10-12 Frauen in Räuberzivil, d. h. lange Hosen, warme Jacken, Kopftuch. Jede hatte einen großen Eimer dabei. Es waren Landfrauen, die Bickbeeren pflücken wollten. Im Scherz sagte ich zu Karl-Jürgen: „Da kommt ja unser Autobus!“ Doch welch ein Schreck! Das Vehikel hielt. Der Treckerfahrer rief: „In die Göhrde!“ Wir zeigten unsere Karten und schauten ungläubig zu ihm auf. „Ja, ja, wir sind der Bus-Ersatz“, sagte der Fahrer.
Dieser Schock nahm uns im ersten Moment die kühle Überlegung, wir stiegen auf den Anhänger und setzten uns auf ein schmales Brett zu den Bickbeerfrauen, wie die Hühner auf der Stange. In unserem Sonntagsstaat sahen wir jedoch eher wie zwei Pfauen in diesem Hühnerstall aus. Die Leute waren gepackt vom Bickbeerfieber, man diskutierte eifrig, wo wohl die ergiebigsten Jagdgründe seien, und dass ihnen ja niemand zuvor käme.
Nach einer halben Stunde hatten wir gerade mal 5 km zurückgelegt und das nächste Dorf erreicht. Dort kamen noch einige Frauen hinzu. Sie mussten auf dem Boden sitzen. die „Stangenplätze“ waren alle besetzt. Noch ein Dorf, noch ein paar Leute. Die Landstraßen waren in einem schlechten Zustand. Der Wagen hatte keine Federung, und wir hopsten von unseren Sitzstangen oft einen halben Meter hoch. Da die Seitenplanken nicht höher waren als die Sitze, gab es teils lebensgefährliche Situationen. Der Fahrer bog schließlich ab in einen Sandweg, und nun ging es im Schneckentempo weiter. In den weiten Bickbeerfeldern saßen schon etliche Sammler. An einer Wegbiegung blieb der Trecker stehen, wir stiegen ab. Oh, welche Erholung: Fester Boden unter den Füßen! Von einem Café war jedoch nichts zu sehen. Wir waren mitten in der Waldeinsamkeit.
Als wir hörten, dass der Trecker sofort leer zurückfahren würde und uns erst abends um 18 Uhr abholen wollte, entschlossen wir uns, sofort wieder aufzusteigen und umzukehren.
Die Erschütterungen waren noch schlimmer, weil der „Ballast“ fehlte. Nur stehend und vornübergebeugt, krampfhaft an den Sitzstangen klammernd konnten wir es aushalten, denn unser Po war inzwischen wie gehacktes Beefsteak.
Nach zwei Stunden Fahrt waren wir dann einen Kilometer vor Bevensen angelangt. Unser Magen wollte nicht mehr länger mitmachen, uns war zumute wie nach einer Seefahrt bei Windstärke 12. Wir stiegen aus. Wir taumelten von diesem Teufelsfahrzeug zum Waldrand, sanken ermattet nieder und rührten uns eine halbe Stunde nicht vom Fleck.
Fast 70 Jahre später kann sich keiner mehr vorstellen, dass man auf so einem Gefährt eine „Vergnügungs-tour“ machen würde.
Autorin: Lore Bünger