von Manfred Hüllen | Als Zeitzeuge, der im Mai 1939 geboren wurde, war für mich trotz der traurigen Nachkriegszeit alles total aufregend und spannend. Meine Mutter versuchte immer, etwas Essbares auf den Tisch zu stellen. Wir aßen Steckrüben und Möhren mit Kartoffeln, entweder als Gemüse oder als Suppe.
Ein Stück Fleisch oder ein Würstchen? Fehlanzeige! Ein wahres „Festessen“, wenn mal ein Stück Speck oder gar ein Hühnchen im Topf lag. Da es aber allen anderen Menschen ebenso erging, fügten wir uns und träumten von besseren Zeiten.
In meiner Schule in Düsseldorf, Golzheimer Weg, fand der Unterricht in einer Nissenhütte statt – die Schule war durch Bombentreffer zerstört worden. Heute, in einer Zeit, wo man sozusagen alles kaufen kann, erinnere ich mich an ein Erlebnis in der Schule, das meine Haltung zum Thema Armut für mein ganzes Leben bestimmt hat.
Auf dem Schulhof liefen mehrere Jungen hinter einem Mädchen her, das bitterlich weinte. Immer wieder versuchten die Knaben, das Kleidchen der Kleinen nach oben zu ziehen. Sie wiederum wehrte sich nach Kräften, um das zu verhindern.
Auf meine Frage, warum sie das Mädchen nicht in Ruhe ließen, lachten sie und riefen: „Die hat ja keine Unterhose an!“
Ein älterer Lehrer kam hinzu und sprach das Mädchen an mit den Worten: „Nun stell dich nicht so an – es ist ja nichts passiert!“ Zum Glück kam eine Lehrerin und sagte zu dem immer noch heftig weinenden Mädchen: „Komm, geh mit mir in den Klassenraum.“
Zu Hause erzählte ich dies Erlebnis meiner Mutter, und ihre Erklärung öffnete mir die Augen. „Sieh mal, Manfred, die Eltern von dem Mädchen sind bestimmt sehr, sehr arm, und es fehlt an vielem, sogar an Unterwäsche. So, mein lieber Junge, sieht Armut aus. Die Jungen sind bestimmt nicht schlecht, aber was sie getan haben, wird dieses Mädchen vielleicht sein ganzes Leben lang nicht vergessen.“
Immer, wenn ich heute im Fernsehen einen Bericht aus entlegenen Ländern in Afrika, Asien oder Südamerika und die dort herrschende Armut von Kindern sehe, erinnere ich mich an diese Episode und komme zu dem Schluss: Wir Menschen können auf den Mond fliegen, sind aber nicht in der Lage, armen Kindern zu helfen.
Autor: Manfred Hüllen