von Carsten Stern | Konflikte mit dem Gesetz kann man als Betroffener haben oder man kann sie als Lernender haben.
Als Lernender stelle ich fest: Damals, in den Sechzigern, war die Welt nicht so wie heute. Das ist nicht überraschend. Aber wenn man sich zurück erinnert, was man gelernt hat, dann ist das doch überraschend.
Fall 1:
In Marburg hatten wir 1962 einen Strafrechts-Professor, der die Studenten magisch anzog. Man musste am Strafrecht gar kein Interesse haben. Aber seine Beispiele blieben haften, sie waren, nun ja, lebensnah und lebensfern. Und diese Mischung begeisterte uns Studenten.
Was ist strafbar? Die Straftat, na klar. Der Versuch einer Straftat: ist der strafbar? Wer beim Morden versagt und das Opfer bleibt schwerverletzt am Leben? Strafbar, keine Frage.
Wie aber ist es mit dem untauglichen Versuch, noch dazu am untauglichen Objekt? Beispiel gefällig? Die Studentin und der Student küssen sich leidenschaftlich. Hinterher bekommen sie Angst: Ist sie jetzt schwanger? Begeisterung im Hörsaal. Was tun sie? Sie wollen abtreiben. Sicher ist sicher. Die Stimmung im Hörsaal steigt. Professor Hall wird theaterreif. Wie treibt man ab? Sie nimmt ein – na? – ein Fruchtbonbon! Der Student kauft es ein. Der Hörsaal tobt.
Natürlich gibt es keine Abtreibung. So viel Aufklärung muss sein. Erleichterung im Hörsaal! Oooch. Juristisches Ergebnis: Untauglicher Versuch (Fruchtbonbon) am untauglichen Objekt (Jungfrau), nicht strafbar. Keine Beihilfe, weil keine Straftat, nicht strafbar. Das war so einprägsam, das habe ich behalten. Könnte man heute solch ein Beispiel Erstsemestern vorsetzen? Die Sechziger waren eben noch anders.
Fall 2:
In meiner Referendarstation beim Staatsanwalt bekam ich eine Akte in die Hand mit dem Bemerken: „Stellen sie den Fall ein und formulieren sie den Bescheid. Aber kurz, der schreibt das dreimal im Jahr.”
Was war das für ein „Fall”, bei dem der Staatsanwalt nichts ermitteln wollte? In Deutschland soll doch der Staatsanwalt pro und contra ermitteln?
Der Fall war aus einer Praxis des Lebens, wie ich sie nicht kannte und mir auch nicht vorstellen konnte: Ein Mann hatte eine Strafanzeige wegen sexueller Belästigung gegen die Leitung des psychiatrischen Heims gemacht, in dem er einsaß. Die Anzeige hatte der Mann gemacht, weil er es war, der sexuell belästigt wurde.
Die Heimleitung musste sich große Mühe gemacht haben, wie ich mit großem Erstaunen in der Akte las: Die Leiterin hatte alle Betten des weiblichen Personals in seinen Raum gestellt, rund um sein Bett herum. Und dort hatten die Frauen mit ihm sexuellen Kontakt haben wollen, Tag für Tag. Dabei wusste doch die ganze Welt, dass er mit deutschen Frauen nichts zu tun haben wollte.
Das schrieb dieser Mann an die Staatsanwaltschaft. Er hatte das noch weiter mit Einzelheiten ausgeschmückt – aber man behält ja nicht alles…
Und aus der Akte war auch noch zu sehen, dass die ganze Welt das wirklich wusste: Da war ein Brief von ihm in der Akte an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, in dem er sich beschwerte, dass in Deutschland sein Menschenrecht verletzt würde und der Präsident doch dafür sorgen möge, dass deutsche Frauen…
The White House hatte den Brief weiter geleitet an das deutsche Generalkonsulat in New York, von dort war es an den Hamburger Senat geschickt worden, zuständigkeitshalber. An den Bundespräsidenten hatte der Mann geschrieben, an den Bundeskanzler, an den Ersten Bürgermeister.
Bemerkenswert fand ich noch die Schlussformel seiner Strafanzeige gegen die Heimleitung: „Und zeichne ich ohne jegliche Hochachtung“. Das wenigstens stimmte.
Ich stellte das Verfahren ein. Mein Staatsanwalt hatte jetzt drei Monate Ruhe bis zur nächsten Anzeige.
Fall 3:
Das Oberlandesgericht Hamm war in den frühen 1960ern berühmt, ja berüchtigt für seine skurrilen Entscheidungen in Verkehrssachen. Bei Studenten ein Hort der Freude. Berühmt wurde der Mann, der wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde, weil er als Autofahrer einen Kohlensack auf der Straße überfahren hatte. Bedauerlicherweise lag in dem Sack ein ausgesetztes Baby. Das war nun tot. Der Mann, so urteilte das Oberlandesgericht, hätte aussteigen und nachsehen müssen, was in dem Sack war, sonst durfte er nicht darüber hinweg fahren.
Ein anderes berühmtes Hammer Urteil haben wir als Studenten 1964, wenn man so will, nachgespielt. Wir fuhren zu viert an die Nordsee nach St. Peter-Ording, für ein unbeschwertes Wochenende. Vier junge Männer. Einer von uns hatte von seiner Mutter das Auto losgeeist. Wir waren also bester Stimmung. Drei von uns waren angehende Juristen. Natürlich unterhielt man sich auch mal übers Studium, und dann reifte auf der Fahrt der Entschluss: „Das machen wir!“
Das war, heute würde man sagen: ein gespieltes Urteil des Oberlandesgerichts Hamm. Hamm hatte nämlich kurz vorher einen Autofahrer verurteilt, der ein Zugunglück verursacht hatte. Ein Zug war mit dem Auto auf einem unbeschrankten Bahnübergang zusammengestoßen. Natürlich hätte der Autofahrer sich vorher überzeugen müssen, dass auch kein Zug kommt.
Die Richter hatten aber allen Ernstes entschieden: Dazu hätte er vorher anhalten müssen, aussteigen, er hätte sein Ohr an die Schiene legen müssen, und, erst wenn er nichts hörte, hätte er weiterfahren dürfen. Das hatte er natürlich nicht getan.
Genau das würden aber wir jetzt tun
Gleich hinter Friedrichstadt überquert man auf dem Wege nach St. Peter-Ording einen Bahnübergang. Auch heute noch. Der ist zwar beschrankt, aber das störte unseren Aktionismus überhaupt nicht.
Unser Fahrer stoppte abrupt kurz vor den Gleisen, Motor aus, auf ein Kommando sprangen vier junge Männer aus dem Wagen, rasten zu den Gleisen, legten sich auf die Schienen, hielten ihr Ohr an die Schienen, Kommando, vier junge Männer rasten zurück in ihr Auto, ließen es langsam an und betrachteten mit großem Vergnügen die anderen Autofahrer, die uns „bekloppt“ zeigten. Einige tickten sich an die Stirn, andere schweiften mit der Hand vor ihrer Stirn herum, ein Älterer schüttelte den Kopf: „Nein, diese Jugend heute!” Und uns Vieren hatte es einfach Spaß gemacht.
Die Zeiten haben sich gewandelt. Erstens ist heute der Verkehr für so etwas viel zu stark. Und Nachsicht für solche Aktion dürfte man heute wohl auch viel weniger erwarten als damals – oder täusche ich mich da?
Autor: Carsten Stern