von Carsten Stern | Dies Thema der Zeitzeugenbörse Anfang 2008 ist für mich kein Thema. Und auch das ist ja ein Zeitzeugnis.
Ich war politisch, auch als junger Mensch, immer sehr interessiert. Hätte ich deshalb auch Kriegsangst haben sollen, wie viele Leute sie hatten?
Ich erinnere mich noch sehr gut an 1962/63. Ich studierte damals in Marburg. Irgendwann – ich habe den Zeitpunkt jetzt nicht nachgeprüft – kam ich aus den Ferien von zu Hause wieder zurück nach Marburg und traf meine alten Kommilitonen wieder und das Studium ging wieder weiter. Einige von ihnen erzählten, sie hätten in den letzten Wochen mächtig Angst gehabt vor einem neuen Krieg. Mir war der Gedanke sehr fern. Nie hatte ich daran gedacht. Obwohl ich die Ereignisse in der Zeitung und im Radio sehr genau mitverfolgt hatte, obwohl wir zu Hause viel diskutiert hatten, wie ich erinnere.
In den Ferien war die Kuba-Krise passiert. Auch meine Eltern hatten diskutiert: „Gibt es Krieg oder gibt der Russe diesmal nach? Machen die Amerikaner wirklich ernst?“ Die Amerikaner hatten entdeckt, dass die Russen Raketen auf Kuba stationiert hatten und neue dorthin brachten. Alle waren sie auf den Süden der USA gerichtet. Und weitere Schiffe der Russen waren auf dem Atlantik nach Kuba unterwegs, um Raketen anzuliefern. Kennedy forderte Chruschtschow auf, die Schiffe zurückzuziehen, drohte sie zu versenken und verlangte, die Raketen abzubauen.
Was im Einzelnen vor sich ging, erinnere ich heute nicht mehr. Jedenfalls war der Vorgang für viele Menschen bedrohlich, und einige meiner Mit-Studenten hatten wohl echte Angst gehabt, dass diese Krise zum Krieg führen könnte, weil die Russen nicht nachgeben würden. Sie gaben nach. Chruschtschow zog Schiffe und Raketen ab.
Angst habe ich nicht gehabt. Zum einen vertraute ich auf Kennedy, der ja eine Lichtgestalt für uns Jüngere war; er wusste, was zu tun war und ich war sicher, dass er das Richtige tat – für Chruschtschow galt eigentlich das gleiche. Chruschtschow war nicht Stalin und ich war sicher, dass er keinen Krieg wollte. Wollte er ja auch nicht.
Und eine Angst, dass es wieder zu einem Krieg kommen könnte, hatte ich eigentlich auch nicht. Ich selbst wusste ja nicht, was Krieg bedeutete. Und auch wenn ich die Trümmer noch kannte und von meinen Eltern und Verwandten wusste, was der Krieg bedeutete und was er angerichtet hatte, auch wenn ich selbst 1945 in Berlin ausgebombt war, aber keine Erinnerung daran habe: Vorstellen wie das ist – Krieg – , konnte ich es mir damals nicht und kann es im Grunde auch heute nicht.
Da „helfen“ keine Filme mit den Straßenkämpfen in Berlin. Ich weiß, was war, ich sehe die Bilder, ich habe es erzählen hören immer und immer wieder, und ich habe es doch selbst nicht erlebt oder, richtiger, keine Erinnerung daran.
Das Gefühl von Ohnmacht, Angst, Lebensbedrohung, Verlust, Neuanfang, Tod – das habe ich als Kind der Nachkriegszeit, obwohl mitten im Krieg geboren, nicht gehabt. Vielleicht habe ich deshalb auch kein Gefühl der Angst, es könnte wieder passieren. Angst ist eine Sache des Gefühls, aber nicht des Verstandes. Zum Glück bin ich die „Generation danach“.
Autor: Carsten Stern