von Claus Günther | Am 8. Mai 1945 war der Krieg endlich zu Ende. Das bedeutete aber beileibe nicht, dass für uns 14-jährige Jungs aus Hamburg (Harburg) die Kinder-Landverschickung und damit unser Lagerdasein ein Ende hatte!
Unser Leben im Kloster Windberg (nahe Straubing, Niederbayern) ging im Grunde so weiter wie bisher, und die Heimkehr nach Harburg schien in weite Ferne gerückt. Aber eins war anders: Es gab keinen HJ-Dienst mehr, keine Hitlerjugend und keine HJ-Uniform. Doch ich habe ernsthaft überlegt, wie ich Leute grüße, wenn ich nicht mehr „Heil Hitler“ sage.
Zum ersten Mal lernten wir jetzt, was es hieß, Hunger zu haben. Zwar versuchten wir, den Speisezettel zu bereichern, indem wir unter Anleitung unseres Biologielehrers Pilze sammelten, und auch Tannenzapfen holten wir aus dem Wald, um Heizmaterial für die Öfen zu bevorraten. Obendrein halfen wir ein wenig in der Landwirtschaft, indem wir die Äcker nach Kartoffelkäfern absuchten. In der Freizeit arbeiteten einige von uns (darunter auch ich) bei Bauern. Der Lohn: eine warme Mahlzeit – und mancher von uns bekam Läuse.
Einige meiner Mitschüler hatten sich in den letzten Kriegstagen auf eigene Faust nach Hause durchgeschlagen, doch danach mussten wir unserem Lehrer das Ehrenwort geben, dass wir nur gemeinsam mit ihm gehen würden.
Wir langweilten uns – und kamen auf dumme Gedanken. Dass wir Munition aus dem nahen Bogenbach gesammelt, die Patronen aufgeschlagen und das Pulver angezündet hatten (das gibt eine herrliche Stichflamme!), hat sich im Dorf aber schnell herumgesprochen, und so mussten wir antreten und uns eine Standpauke des Bürgermeisters anhören, während links und rechts von ihm amerikanische Militärpolizisten standen, mit entsicherter MP: „Und i glaab, hier san auch noch Panzerfeist (Panzerfäuste) und Gwehre im Loger!“ Er hielt uns wohl für verkappte oder unverbesserliche Nazis! Zur Strafe gab es drei Tage Ausgangssperre – und Unterrichtsverbot für die Lehrer.
Danach warteten wir weiter. Tag für Tag, Woche um Woche. Nachrichten von zu Hause gab es nicht. Kein Telefon, kein Radio, keine Zeitung, kein Brief. Aber immer wieder hörten wir Gerüchte, und einmal kam ein Inspektor in unser Lager. Bald, bald würden wir abgeholt …
Es wurde Mitte August, ehe die Schulbehörde einen altersschwachen Bus nebst Fahrer organisiert hatte. Die Rückfahrt von Bayern nach Hamburg dauerte dann drei volle Tage! Unterwegs versuchten wir, unseren Hunger mit Äpfeln oder Birnen zu stillen, sobald der Bus anhielt und Obstbäume in der Nähe waren. Hin und wieder bekamen wir von Bauern etwas Milch und trocken Brot. Nachts schliefen wir in Scheunen. Im Stroh suchten wir nach Ähren und pulten die Körner heraus, die wir zerkauten, um unseren Hunger zu betäuben.
Der Bus streikte immer wieder, aber irgendwie kriegte ihn irgendjemand auch wieder in Gang, und so fuhren wir weiter durch zerstörte Städte, aber öfter noch über Land, wo es weniger Bombenschäden gab.
Dann, endlich, hielt der Bus in Harburg am Heckengang, und wenige Minuten später war ich im Hause meiner Großmutter angelangt. Das war heil geblieben, im Gegensatz zu unserer Wohnung, und es überraschte mich keineswegs, neben meiner Großmutter auch meine Mutter hier anzutreffen. Umgekehrt war die Überraschung sicherlich größer, denn meine Heimkehr hatte ich ja nicht ankündigen können! Doch immerhin: dass ich unterwegs sei, hatte meine Mutter auf Nachfragen von der Schulbehörde erfahren.
Fünfzehneinhalb Monate war ich, nunmehr 14-jährig, in der KLV gewesen. Von meinem Zeug passte mir so gut wie gar nichts mehr. An den Füßen trug ich zwei Paar Socken, beide hatten Löcher, und meine Schuhe stammten von zwei verschiedenen Paaren: der eine Schuh war zu groß, der andere zu klein. Meine Füße waren voller Druckstellen.
Mein Lehrer hatte mir mit auf den Weg gegeben, dass er noch ein Paar Stiefel von seinem Sohn habe, aus denen jener herausgewachsen sei. Also machte meine Mutter sich mit mir auf den Weg zu ihm, zu Fuß durch die ganze Stadt. Es war warm, und ich ging barfuß. Erst jetzt sah ich, was die Bomben auch hier in Harburg angerichtet hatten. Trümmer über Trümmer; viele mir bekannte Geschäfte gab es nicht mehr, und auch meine Oberschule (das heutige Friedrich-Ebert-Gymnasium) war teilweise zerstört.
Die Stiefel passten mir; meine Mutter gab dem Lehrer ein Pfund Butter dafür. Ich habe mich geschämt, weil wir doch selbst so wenig zu essen hatten. Dass es mit dem Hungern noch weit schlimmer werden sollte, und dass obendrein, wer nicht in der Lage war, Kohlen zu klauen im maßlos strengen, endlosen Winter 1946/47, Gefahr lief zu erfrieren, ahnte damals noch keiner. In jenem Winter bekamen wir Schüler manchmal „Kälteferien“, oder wir saßen, bei trübem Deckenlicht, in unseren Winterklamotten im Klassenraum. Die im Kriege zersplitterten Fensterscheiben waren mit Brettern vernagelt – Glas gab es noch nicht wieder.
Mein Vater kam 1946 krank aus amerikanischer Gefangenschaft; er hatte Lähmungen nach Rachendiphtherie. Danach blieb er 5 Jahre arbeitslos, Erst im Alter von 50 Jahren fand er wieder eine Anstellung.
Autor: Claus Günther