von Claus Günther | Gewaltfreie Erziehung? Dass ich nicht lache. Ohne Strafen und körperliche Züchtigung kommt man heutzutage beim Erziehen von Kindern nicht aus. Stimmt doch, oder? Ob in der Schule oder zu Hause: „Kinder mit ‘nem Willen kriegen was vor die Brillen!“
Das war die Maxime im 20. Jahrhundert, so wurde die Mehrzahl der Heranwachsenden behandelt, flankiert von Sätzen wie „Sei nicht so neugierig!“ und „Kinder haben den Mund zu halten! Kinder haben nur zu reden, wenn sie gefragt werden.“ Wie bitte? In einem meiner ersten Zeugnisse stand: Claus schwatzt zu viel.
Es mutet absurd an, dass Kinder sich zur Strafe in die Ecke stellen mussten oder in der Schule vor die Tür geschickt wurden, und nicht nur dort. Natürlich war das immer noch besser, als geschlagen zu werden. Ohrfeigen waren gang und gäbe, doch wir Kinder wurden auch an den Ohren gezogen oder an den Haaren. Manchmal wurden wir auch übers Knie gelegt oder mit dem Ausklopfer verprügelt, obgleich der doch für Teppiche gedacht war. In der Schule haben wir dann den Rohrstock kennen gelernt, und wer in der HJ nicht spurte, also in der Hitlerjugend, musste damit rechnen, dass der „Heilige Geist“ ihn heimsuchte oder er geschliffen wurde, d.h. körperlich bis zur Erschöpfung gedrillt.
Widerworte und eine eigene Meinungen zu vertreten, war unerwünscht: „Gelobt sei, was hart macht!“ (Nietzsche). Das Recht des Stärkeren war Trumpf. Wer von uns Jungs körperlich nicht robust war oder besonders groß, hatte wenig Chancen und lief Gefahr, zum Duckmäuser zu werden – noch dazu, wenn er unsportlich war. So habe ich diese Zeit erlebt. Sie mündete in dem Fazit: „Die paar Schläge! Na und? Das hat noch keinem geschadet. Sind doch alle was Anständiges geworden, später!“
Gewiss, das mag stimmen. Doch niemand scheint gefragt zu haben, was aus uns geworden wäre, wenn wir nicht geschlagen worden und angstfrei aufgewachsen wären. Angst war mein ständiger Begleiter zu Hause, manchmal auch in der HJ und in der Schule, aber vor allem bei jedem Fliegeralarm bis 1945. Es grenzt für mich an ein Wunder, dass die meisten von uns äußerlich unbeschadet geblieben sind. Doch wie heißt es so schön in der Operette Land des Lächelns: „Wie’s da drinnen aussieht, geht niemand was an!“
Erst nach dem Ende des Krieges, als mein Vater aus der Gefangenschaft gekommen war und sich körperlich erholt hatte, habe ich gewagt, ihm entgegenzutreten und seine Arme festzuhalten, als er mich erneut schlagen wollte: „Wag es nicht noch einmal, mich anzurühren. Ich schlage zurück!“
Traurig bin ich hinausgegangen, ohne mich umzusehen.
Autor: Claus Günther