von Claus Günther | Eigentlich heißt mein Vetter Karl-Heinz, aber von Kindesbeinen an wird er Heino genannt. Damals, Anfang der 50er Jahre, hatten wir uns angefreundet. Wir waren fast gleichaltrig – so um die zwanzig – , hatten einige gemeinsame Interessen, aber kaum Geld, um im Urlaub zu verreisen. Also blieb nur das Trampen.
Auf unsere erste Tour, im Mai 1952, nahm ich 50 D-Mark und eine „eiserne Reserve“ mit.
Wir wollten von Harburg aus in den Harz und kamen bis Altenau, mit Zwischenstationen in Celle und Hannover, bei Verwandten von Heino. Die versorgten uns teilweise mit Essen, Zigaretten und Geld für die Straßenbahn. Mitgenommen wurden wir in Pkws und Lkws – uns war’s egal womit; vor allem dann, wenn wir mal wieder stundenlang an einer Autobahnauffahrt gewartet hatten. Unterwegs übernachteten wir in Jugendherbergen, wo wir nicht nur besonders preisgünstig aßen, sondern manchmal von Schülerinnen angeschmachtet und mitverpflegt wurden. (Sogar die Schuhe haben die uns geputzt!) Bei unserer Heimkehr nach Hamburg, 14 Tage später, hatte ich von den 50 Mark noch 5 Mark übrig.
Für die zweite Tramptour, im September 1953, hatten wir uns Größeres vorgenommen. Diesmal wollten wir von Harburg bis zum Bodensee kommen – was wir auch geschafft haben. Mehr noch: Wir trampten in die Schweiz bis nach Zürich. Ein 3-Tage-Visum nutzen wir weidlich aus. Erst am fünften Tag überquerten wir wieder die Grenze nach Deutschland, und beantworteten dem Zöllner sein barsches „Wieso denn das?“ mit der naiven Ausrede: „Ja, am Montag sind wir rein, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag in der Schweiz geblieben – also drei Tage – , und heute sind wir zurück…“ „Haut bloß ab!“, lautete die Antwort.
Mitgenommen haben uns die unterschiedlichsten Leute. Ein Fahrer war blau, was wir aber erst nach dem Einsteigen feststellten. Wir baten ihn unter einem Vorwand, anzuhalten und uns aussteigen zu lassen. Ein anderer lud uns auf einer Raststätte zum Essen ein, kam uns dann aber körperlich sehr nahe, so dass wir mit knurrendem Magen flüchteten.
Eine weitere Fahrt endete am Abend in einem kleinen Nest im Hessischen. Wir fragten uns zum Bürgermeister durch, mussten unsere Ausweise abgeben und bekamen eine winzige Unterkunft zugewiesen – einen Raum ohne Fenster, vielleicht ein früherer Schafstall. Drei Holzpritschen, schmutzige Wolldecken, an der Tür ein Spruch: „Beim Pfarrer gibts was zum Fressen!“ – und dazu ein dreckiger alter, zerlumpter, betrunkener Kettenraucher, der unentwegt hustete – nicht zum Aushalten! Um vier Uhr morgens trommelten wir den Bürgermeister wach, forderten unsere Ausweise zurück und begaben uns übermüdet an die Autobahn.
Dass dann ein dreirädriges Tempo-Vehikel anhielt und der Fahrer mich vorn einsteigen ließ, war mein Glück: Vetter Heino musste auf die offene Ladefläche und fror jämmerlich.
Trampen – ein Abenteuer. Nicht ungefährlich, aber schön. Wir waren zum ersten Mal in unserem Leben im Ausland! In der Züricher Jugendherberge sind wir ins Gespräch gekommen mit jungen Dänen, Finnen, Norwegern. Wir fühlten uns als Deutsche – und zugleich als Europäer. Es hatte etwas Versöhnliches; der Krieg war noch nicht lange vorbei.
Autor: Claus Günther