von Wilhelm Simonsohn | Durch den Boykott der Kohlenfirma meines (jüdischen Adoptiv)-Vaters war meine Familie 1935 wirtschaftlich auf einem gewissen Nullpunkt angelangt. Trotzdem handelte mein Vater in meinem Sinne noch so eindrucksvoll, dass er sich nicht scheute, einen „Gang nach Canossa“ zu gehen.
Die letzten Schulferien in meiner 3. Knaben-Mittelschul-Klasse brachen heran. Alle Jungs konnten mit ihren Eltern mehr oder weniger einen schönen Ferienurlaub gestalten. Was war jedoch mit mir, der ich keine finanziellen Möglichkeiten hatte, in diesen Ferien irgendetwas Besonderes zu unternehmen? Was machte mein Vater in dieser Situation? Er ging zum Prokuristen der Firma „Haniel“, den er aus den guten Zeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit näher kennengelernt hatte.
Das Ergebnis dieses Gesprächs, das meinem Vater sicherlich nicht leichtfiel, war, dass ich als (einziger) Passagier des Kohlendampfers dieser Reederei „anmustern“ durfte und so auf diese Weise einzigartige Ferien erlebte, um die mich später die ganze Klasse beneidete.
Ich ging also an Bord des einzigen Schiffes dieser Firma namens „Franz Haniel“, ein 1911 in Sunderland gebauter, etwa 2.800 BRT großer Kohlendampfer, der gerade mal eine Reisegeschwindigkeit von acht Knoten hatte und in seiner Aufteilung noch den alten Frachtschiffen der damaligen Zeit entsprach.
Der Kapitän empfing mich nicht gerade überglücklich. Das Schiff fuhr zwar in „Ballast“ nach England, um dort Kohlen an Bord zu nehmen, aber dieser zusätzliche Ballast in Form eines 15-Jährigen, von dem er nicht einmal wusste, ob der nicht schon bei Windstärke 2 vor Brunsbüttel seekrank in die Elbe spucken würde, gefiel dem Kapitän gar nicht. Erstaunlicherweise trat er mir, der ich in seinen Augen weniger wert war als der jüngste Schiffsjunge, seinen Salon ab, der schönste ̶ holzgetäfelte ̶ Raum auf dem gesamten Schiff.
Später wusste ich seine scheinbare Großzügigkeit erst richtig einzuschätzen. Die Koje seines „fürstlichen“ Salons lag achtern, nämlich genau über dem Wellentunnel. Da das Schiff, wie vorher erwähnt, in Ballast nach England fuhr und somit recht hoch aus dem Wasser herausragte, konnte der jeweilige Schläfer mit seinem Rückgrat die Drehzahl der Schiffsschraube deutlich registrieren.
Das mittschiffs liegende Kartenhaus lag vor der Dampfmaschine. Hier herrschte vergleichsweise eine himmlische Ruhe.
Wenn der Wind auffrischte und der Dampfer anfing zu stampfen und zu schlingern, war hier im Kartenhaus in jeder Beziehung der ruhigste Ort im gesamten Schiff.
Ich hatte mich auf der Fahrt nach England dem noch recht jungen zweiten Offizier angeschlossen, der mir sein Interesse bekundete, mir auf der Brücke alle Dinge zu zeigen und zu erklären, die für die Führung eines kleinen Frachters erforderlich sind. So teilte ich mit ihm die ganze Reise ̶ sie sollte fünf Wochen dauern! ̶ seine Wache.
Hinter Helgoland, mit Kurs auf Sunderland, frei von allen Hindernissen, weder Sandbänke noch Eisberge in Sicht, ließ er mich das erste Mal ans Ruder, und ich lernte dann, wie man ein immerhin fast 100 Meter langes Schiff mit einem Magnet-Kompass (kein Kreisel-Kompass) steuerte, der seine besonderen Vor- und Nachlauf-Tücken hatte. So nach der dritten oder vierten Wache mit ihm ̶ England kam demnächst in Sicht ̶ hatte ich das Pro-blem des Nachdrehens des Magnet-Kompasses einigermaßen im Griff.
Ganz am Anfang zeigte mir der „Zweite“, mich mit zur „Brückennock“ nehmend, nach achtern blickend, das noch sichtbare Kielwasser unseres Schiffes, fragte mich noch einmal nach meinem Namen und sagte: „Genau den hast Du ins Kielwasser geschrieben.“ Auch sonst waren wir die ganze Reise so etwas wie „ein Herz und eine Seele“, da ihm mein Interesse an der christlichen Seefahrt offensichtlich großen Spaß brachte. Ja, er ging so weit, mich in die Bedienung eines Sextanten einzuweisen, die „Hohe Schule“ der astronomischen Navigation.
Als das Wasser sich von Grün auf Grau umzufärben begann als Zeichen dafür, dass nun bald Land in Sicht kommen müsste, erschien Kapitän Brand auf der Brücke, blickte mich nicht mehr ganz so missmutig an wie am ersten Tag und übernahm das Kommando für die Hafeneinfahrt in den Schleusenhafen Sunderland. Hier luden wir Kohlen für die Östergaard Gaswerke in Kopenhagen. Riesige Loren fuhren direkt aus dem Bergwerk auf eine höher gelegene Brückenanlage und schütteten ihre Kohlen über entsprechende Rutschen direkt in die jeweilige Ladeluke.
Und nun kam das erste große und außergewöhnliche Ereignis: Am zweiten Tag des Ladungsvorganges fingen die Kohlenarbeiter an zu streiken. Der Kapitän und seine Crew liefen mit düsterer Miene umher. Nur ich genoss diese Verzögerung der Ausfahrt in vollen Zügen, um mich an Land zu tummeln.
Ich erlebte hier ein Beispiel für die dort sehr hoch angesiedelte Redefreiheit, denn nicht nur im Londoner Hyde Park, sondern wohl auch in allen englischen Städten ̶ so auch in Sunderland ̶ wurden zu irgendwelchen Themen von irgendwelchen Leuten Reden gehalten.
So auch an diesem Tag in der High West Street in Sunderland. Dort stand auf dem Bürgersteig auf einer Art Haushaltshocker ein Redner und beklagte mit rhetorischem Schwung „the high food prices“. Die Menschenmenge um ihn herum vergrößerte sich angesichts dieses offenbar aktuellen Themas sehr rasch. Und nun passierte etwas, was mich rückblickend an den „Blaumilchkanal“ von Kishon erinnerte. Zwei Bobbies regelten den Verkehr dergestalt, dass die Autos um die auf den Straßen stehenden Zuhörer herumgeleitet wurden. In Deutschland wäre, egal unter welcher politischer Couleur, mit dem Postulat der Redefreiheit ein derartiger Umgang undenkbar.
Der Streik endete (für mich leider viel zu früh) nach einigen Tagen, und wir setzten unsere Fahrt in Richtung Skagerrak fort. Dieses Mal war das Schiff bis zur entsprechenden Markierung an der Außenbordwand voll beladen, und lag deshalb recht tief im Wasser. Der Wind frischte auf, drehte auf Nordwest, also praktisch im rechten Winkel zu unserem Kurs, und erreichte gegen Abend eine derartige Stärke mit entsprechender Wellenbewegung, dass der „Alte“ sich entschloss, das Schiff in die Windrichtung beizudrehen, um zu verhindern, dass die Brecher querab über das Schiff hinweggingen und eventuell die Ladeluken beschädigten. Diese Phase der „christlichen Seefahrt“ habe ich nicht wegen des Sturmes in allerschlechtester Erinnerung, sondern wegen meines körperlichen Zustandes. Ich lag total seekrank in irgendeiner Ecke des Schiffes im Windschatten und habe mir „die Seele aus dem Leib gekotzt“.
Als der Sturm nachließ und wir unseren alten Kurs wiederaufnahmen, sahen wir auf der Lee-Seite von Skagen eine Reihe von Schiffen, die z.T. größer waren als unseres, vor Anker liegen, um ruhigeres Wetter abzuwarten.
In Kopenhagen ging ich sofort wieder an Land. Auf einer der Hauptstraßen begegnete mir ein Marine-Offizier auf einem Fahrrad. Es war der dänische Kronprinz, der Vater der jetzigen Königin.
Wir starteten zur vorletzten Etappe unserer Reise mit nordwestlichem Kurs nach Methyl im „Firth of Forth“ kurz vor Edinburgh auf der Nordseite. Hier luden wir schottische Nusskohlen für Hamburg.
In Methyl durfte ich in eine Kohlengrube einfahren, die nach meiner Erinnerung etwa 800 Meter tief war, und die mit einem riesigen Fahrstuhl die Ablösung in Sekundenschnelle nach unten brachte. Die Fallgeschwindigkeit war so enorm, dass der Magen nach oben wanderte.
Draußen am Förderband konnte ich Frauen beobachten, die Schieferstücke aus der Kohle heraus klaubten, eine für Frauen unter heutigen körperlichen und ästhetischen Gesichtspunkten völlig unzumutbare Arbeit, die etwas an den „Manchester-Kapitalismus“ erinnerte.
Die letzte Etappe von Schottland nach Hamburg verlief „ohne besondere Vorkommnisse“, würde man im Logbuch eingetragen haben. Irgendwann um halb zwei Uhr nachts legten wir an in Haniels Kohlenhof in Altona, und ich ging mit meinem Päckchen ̶ ich hatte übrigens für die gesamte, fünf Wochen dauernde Fahrt, 10 Reichsmark Taschengeld mit ̶ an Land. Ich schnappte mein Seesack-ähnliches Gebilde, ging die Treppen zum „Silbersack“ hoch (wir wohnten ja inzwischen in der Marktstraße, in der Nähe des Altonaer Bahnhofs) und wurde Zeuge eines Erlebnisses, das für mich meine positive, wenn auch platonische Meinung über das weibliche Geschlecht wie ein Kartenhaus zusammenbrechen ließ.
An der Ecke zur Reeperbahn, an der Kneipe „Zum Leuchtturm“, waren viele Menschen versammelt, die irgendein Ereignis mit anspornenden Zurufen begleiteten. Ich schlängelte mich in die Sichtweite dieses Ereignisses und erblickte zwei Frauen, offenbar Frauen des „horizontalen Gewerbes“, die sich wegen irgendwelcher Meinungsverschiedenheiten derartig in die Wolle gekriegt hatten, dass sie jegliche weibliche Contenance vermissen ließen. Mit anderen Worten: Die beiden Frauen prügelten aufeinander ein, rauften sich in den Haaren.
Dass zwei Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts in dieser brutalen Art und Weise aneinandergeraten waren, war auch für mich ein Stückchen neuer Lebenserfahrung.
Der in unserer Schule nach den Ferien obligate Aufsatz, in dem ich meine Dampferreise ̶ wie vorstehend geschildert ̶ zum Thema machte, wurde inhaltlich mit der Note „1“ belohnt (mit der Grammatik sah es etwas schlechter aus).
Autor: Wilhelm Simonsohn