von Ingeborg Schreib-Wywiorski | Berlin, Sommer 1945.
Für meine Mutter, eine waschechte Berlinerin, gehörte auch in den schwierigsten Zeiten zum Sonntagnachmittag der Familienspaziergang und anschließend Einkehr in einem Café zu Kaffee und Kuchen. Aber was tun, wenn echter Bohnenkaffee so kostbar wie ein Goldbarren und Muckefuck mühselig hausgemacht war.
„Hier können Familien Kaffee kochen“, lockten deshalb die Gastwirte in den ersten Monaten nach dem Krieg in den wieder viel besuchten Ausflugslokalen am Schlachtensee. Das hieß nichts anderes, als dass man das mitgebrachte Kaffeepulver dort aufbrühen konnte. Die Kanne, Tassen und Teller und selbstgebackenen Kuchen lieferte der Wirt.
In der Innenstadt öffneten derweil wieder die eleganten Cafés mit ihren wunderbaren Tortenangeboten, die in den Schaufenstern zur Schau gestellt wurden. Für uns Kinder der Inbegriff
eines bis dahin unbekannten neuen Reichtums. Besonders die dick überzogenen Buttercremetorten hatten es meinem kleinen Bruder und mir angetan. Also löcherten wir meine Mutter, bis sie eines Sonntags im August mit uns zum S-Bahnhof Friedrichstraße fuhr. Genau gegenüber sahen wir schon von weitem im Schaufenster das Objekt unserer geheimsten Wünsche: eine große Torte, dick überzogen mit weißer und hellgrüner Creme, verziert mit Rosen aus rötlichem Zuckerguss! Herrlich!! „Aber nur ein Stück für jeden!“, gab meine Mutter nach und spendierte jedem ein Stück dieser herrlichen Torte. Sie musste verzichten. So weit reichte ihr Budget nicht. Doch ach, irgendwie schmeckte das längst nicht so köstlich wie es aussah – eher irgendwie scheußlich künstlich.
Am nächsten Tag waren mein Bruder und ich sterbenskrank, die Toilette ständig besetzt, wir wussten gar nicht, wie schnell wir uns drehen sollten, bis alles wieder raus war.
Der Hausarzt stellte eine Vergiftung fest, und ein paar Tage später hatten wir es schwarz auf weiß. Viele Vergiftungen in Berlin, die Creme war in schlecht gereinigten, mit Grünspan überzogenen Kesseln angerührt worden. Es soll sogar Todesfälle gegeben haben.
Und die Moral von der Geschichte? Selbst heute noch wird mir schlecht beim Anblick von Buttercremetorte. Sofort habe ich wieder den künstlich grünen, süßlichen Geschmack auf der Zunge.
Autorin: Ingeborg Schreib-Wywiorski