von Claus Günther | Vieles kann brechen und zerbrechen: ein Zweig, ein Bein, ein Teller, eine Freundschaft, eine Ehe – sogar Verträge werden gebrochen. Zu keinem Zeitpunkt meines Lebens aber gab es einen größeren Einschnitt als nach dem Ende des Krieges, 1945. Es war der totale Zusammenbruch.
Ich habe das verkraftet mit meinen 14 Jahren. Irgendwie haben das zwangsläufig alle, die am Leben geblieben waren. Doch verloren gegangen waren nicht nur der Krieg und die deutschen Ostgebiete. Verloren war die Illusion, als Deutscher etwas Besonderes zu sein. Zerbrochen war auch der Nationalstolz, diskreditiert war die Ideologie, die uns von den Nazis eingeimpft worden war.
Die Konsequenzen des Zusammenbruchs konnte ich mir natürlich noch nicht ausmalen; ich erlebte ihn in Bruchstücken, zum Teil bereits vor dem eigentlichen Ende:
Mai 1944: Abfahrt aus Hamburg-Harburg in die Kinder-Landverschickung (KLV). Am Bahnhof fährt ein Güterzug vorbei, beladen mit Paks (Panzerabwehr-kanonen). An einem Wagen steht: „Räder müssen rollen für den Sieg!“ Ich glaube nicht mehr daran, doch ich spreche mit niemandem darüber. Ich bin erst 13, mein Vater ist PG (Parteigenosse), er kämpft als Soldat an der Ostfront.
20. April 1945: Hitlers Geburtstag. Wir 13- bis 14-jährigen Jungs befinden uns im KLV-Lager Kloster Windberg in Niederbayern. Ein Führer der Hitlerjugend hält eine Ansprache. Er faselt vom Endsieg und von Wunderwaffen. Wir buhen ihn aus.
24. April 1945: Wir Schüler haben im Wald Tannenzapfen gesammelt zum Befeuern des Küchenherdes. Als wir zurückkehren, prangt auf dem Dach des Klosters eine große weiße Fahne. Die Mönche ergeben sich. „Diese Feiglinge!“ Leider haben wir Jungs keine Panzerfäuste, sonst würden wir kämpfen. Vielleicht nicht mehr für Hitler, aber für Deutschland.
2. Mai 1945: Hitler ist tot. Er starb, so wird uns mitgeteilt (ein Radio besaßen nur die Lehrer) „am 30. April auf seinem Gefechtsstand in Berlin, an vorderster Front bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend“ Das glaube ich nicht. Sein Nimbus ist längst passé, ebenso die irrsinnige Prophezeiung vom deutschen Endsieg.
9. Mai 1945: Gestern hat Deutschland kapituliert. Bedingungslos. Unser Lehrer, der den Ersten Weltkrieg als Hauptmann mitmachte bis zu seiner Verwundung, teilt es uns mit und fügt traurig hinzu: „Wieder hat Deutschland verloren. Nun schon zum zweiten Mal.“ Weg mit dem Partei-Abzeichen, weg mit allen Hakenkreuzen, allen Uniformen und dem Heil-Hitler-Geschrei. Nie mehr strammstehen, nie mehr die Fahne grüßen müssen!
Mitte August 1945: Ende unserer KLV-Zeit. Ein Autobus holt uns aus Bayern ab. Wir fahren durch das zerstörte Deutschland. Nach fünf Tagen kommen wir in Harburg an, wo wir vor mehr als 15 Monaten abgefahren sind. Wir – meine Eltern und ich – sind ausgebombt, wie die meisten Hamburger. Ich habe mein Zuhause verloren, mein Zeug, meine Spielsachen, meine Freunde, meine vertraute Umgebung. Ich wohne jetzt im Haus meiner Großmutter, in einem anderen Stadtteil, zusammen mit ihr und meiner Mutter. Mein Vater kehrt wenig später krank aus amerikanischer Gefangenschaft zurück. Er bleibt die nächsten fünf Jahre arbeitslos. Einmal bekommt er einen Nervenzusammenbruch, wird in eine Zwangsjacke gesteckt und kommt ins Krankenhaus. Meine zweite Großmutter ist im März 1945 durch eine Luftmine ums Leben gekommen, gemeinsam mit einer ihrer Töchter. Der Luftdruck, so wurde berichtet, habe ihre Körper zusammengepresst, ihre Leichen hätten in einen Kindersarg gepasst. Ich höre das, doch ich kann nicht trauern. Wir wohnen in beengten Verhältnissen, Hunger und Kälte machen uns zu schaffen. Es gibt viel zu tun. Langsam, sehr langsam normalisiert sich das Leben wieder. Wir Kriegskinder verdrängen unsere Ängste und den eingeforderten Drill vergangener Jahre, doch vieles davon werden wir weitergeben, unbewusst, an die nächste und die übernächste Generation. Welch ein Bruch, welch ein Erbe!
Autor: Claus Günther