von Rolf Schultz-Süchting | Ich habe im Sommer 1964 in West-Berlin Jura studiert. Die Stadt war seit dem 13. August 1961 durch den Mauerbau total geteilt. Einen Übergang zwischen West- und Ost-Berlin gab es für die Offiziellen der immer noch für Gesamt-Berlin letztlich staatsrechtlich verantwortlichen Alliierten und sonstige privilegierte Personen am Checkpoint Charlie. Zwei oder drei andere Durchgangsstellen konnten per Auto von Ost nach West und andersherum durch die durch einen streng bewachten Schlagbaum unterbrochene Mauer durchfahren werden.
Aber für die „Normal-Bürger“ gab es von Ost nach West überhaupt keinen Übergang, die Mauer war strengstens durch Volkspolizisten mit Maschinengewehren bewacht, und auf der Ost-Berliner Seite gab es einen mehrere Meter breiten Streifen vor der gesamten Länge der Mauer. Dort fand kein Verkehr statt, nichts wuchs und es bestand völlig freie Sicht auf etwa sich der Mauer Nähernde – der sogenannte „Todes-streifen“.
Bürger*innen aus der Bundesrepublik und West-Berlin konnten nach Ost-Berlin über den Bahnhof Friedrichstraße einreisen. Dies war und ist innerhalb des Berliner Verkehrsnetzes ein Bahnhof für Fern-, S- und U-Bahn in Berlin-Mitte (in Ost-Berlin). Er stammt aus der Zeit der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ – also der Zusammengehörigkeit Berlins. Bahnen mussten von West-Berlin durch Ost-Berlin fahren, um den Bahnhof Friedrichstraße zu erreichen. Sämtliche S- und U-Bahnhöfe waren im Ostteil total abgeriegelt, unbeleuchtet und mit Volkspolizei-Wachpersonal mit Gewehren bestückt. Sie sollten dafür sorgen, dass keine Ost-Berliner Bürger*innen sich auf den Bahnhof schleichen und auf die langsam dort ohne Halt durchrollenden Züge aufspringen konnten. Ein gespenstischer Übergang von West nach Ost!
Auf dem Bahnhof Friedrichstraße konnte man aussteigen. Die Ost-Ber-liner*innen durften aber natürlich auf diesen Ankunftsbahnsteigen nicht in die Züge einsteigen. In jedem Wagen des anhaltenden Zuges herrschte strengste Bewachung. Wenn man einen „triftigen“ Grund zur (weiteren) „Einreise“ nach Ost-Berlin hatte, konnte man mittels eines dort ausgestellten „Passier-scheines“ nach Ost-Berlin „ein-reisen“.
„Triftige“ Gründe waren ein Arbeitsplatz oder Verwandte, die pflegerisch betreut werden mussten. Die Halle, in der man sich dann mit seinen Verwandten aus Ost-Berlin treffen konnte, wurde im Sprachgebrauch wegen der regelmäßig auftretenden emotionalen Ausbrüche als „Tränenpalast“ bezeichnet. Der Passierschein galt dann bis abends 24.00 Uhr.
Da ich keinen triftigen Grund zum Aufenthalt hatte, habe ich also Ost-Berlin zunächst nicht besuchen können.
Im Mai 1964 fand in Ost-Berlin das Deutschlandtreffen der Jugend statt, zu dem die DDR jugendliche Sportler aus aller Welt – quasi im Vorgriff auf die Olympischen Sommerspiele im Oktober 1964 in Tokio – eingeladen hatte. Und da fanden es die Oberen der DDR eine weltweit gut ankommende Geste, über die Dauer dieser Festspiele auch West-Berliner und sonstige BRD-Bürger*innen die Einreise nach Ost-Berlin zu erlauben.
Wir konnten also für einige Tage ohne Grund Passierscheine auf dem Bahnhof Friedrichstraße – jeweils für einen Tag – erwerben. Davon habe ich Gebrauch gemacht und bin mit einem Studienfreund nach Ost-Berlin gefahren und habe dort auf der Straße Unter den Linden und an der Museums-Insel ein volksfestartiges Treffen von Menschen aus aller Welt erlebt.
Nachmittags haben wir an der Straße Prenzlauer Berg einen Freund meines Studienfreundes besucht, beide kannten sich bereits aus Zeiten vor dem Mauerbau, als also noch Kontakt zwischen Ost und West stattfinden konnte, der durch den Mauerbau abrupt abgebrochen war. Durch das Jugendtreffen war die Kontaktaufnahme von West nach Ost, aber nicht umgekehrt, wieder möglich.
Bei dem Freund am Prenzlauer Berg trafen wir zwei junge Damen, und in eine von denen habe ich mich noch am gleichen Tage verliebt, und sie sich auch in mich. Wir trafen uns in den nächsten Wochen während der Passierschein-erleichterten Zeit häufig in der Zeit bis jeweils 24.00 Uhr.
Zweimal bin ich nachts zu spät zum Bahnhof zurückgekommen. Dies hatte die „Strafe“ zur Folge, dass ich den Bahnhof Friedrichstraße fegen musste – zusammen mit anderen, die ebenfalls zu spät gekommen waren – und danach auf einer Bank im Bahnhof schlafen durfte, um dann am nächsten Morgen um 7.00 Uhr wieder einen neuen Passierschein zu erhalten.
Da es zwischen Ost- und West-Berlin keinen Telefonkontakt oder sonstige Kommunikationsmittel gab, haben wir uns immer bei einem Treffen für das nächste Mal verabredet.
Nachdem das Deutschlandtreffen der Jugend beendet war, gab es keine Passierscheine ohne triftigen Grund mehr. Wir wollten aber unsere Beziehung noch nicht beenden. Deswegen haben wir uns als triftigen Grund überlegt, dass ich eine Tante in Ost-Berlin habe, die ich betreuen müsse. Dieser Grund ist in den kommenden Wochen erfreulicherweise nie hinterfragt worden. Kann man sich heutzutage in digital überwachbarer Zeit überhaupt nicht mehr vorstellen.
Aber einmal bin ich wieder nach 24.00 Uhr zum Bahnhof Friedrichstraße zurückgekommen.
Die Bahnhofs-Fege-Bestrafung gab es nun aber nicht mehr (sie war wohl eine Ausnahme wegen des Jugendtreffens); sondern nun musste ich auf eine Vernehmung durch eine Volkspolizei-Mitarbeiterin warten und wurde über 3 Stunden eingesperrt. Ich hatte schlotternde Angst, was die wohl fragen und was mit mir passieren würde, da ich doch tatsächlich keinen triftigen Grund für die Passierscheine und schon gar nicht für die nächtliche Verspätung angeben konnte. Liebe gilt in solchen Zusammenhängen ja nicht als triftiger Grund. Ich wollte aber natürlich auf keinen Fall meine Freundin verraten, die vielleicht wegen West-Kontakt in erhebliche Schwierigkeiten gekommen wäre.
Wie durch ein Wunder hat mir die Dame von der Volkspolizei die Geschichte mit der Tante geglaubt und keine weiteren Nachforschungen angestellt. Oder sie hat mir nicht geglaubt und mich einfach laufen lassen; jedenfalls hatte es mit einer Geldstrafe von 100 DM sein Bewenden. Und ich habe für die folgenden Tage oder Wochen kein Einreise-Verbot erhalten, so dass ich also am nächsten Morgen wieder „passieren“ konnte.
Unsere gemeinsame Zeit endete Ende August 1964, weil meine Freundin ihre Ausbildung in Ost-Berlin beendet hatte und nun eine Stellung antreten musste. Sie hat mir gesagt, dass diese Arbeitsstelle und somit ihr neuer Wohnort in Waren sei; aber ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wo das wohl liegt. Auch als sie mir sagte, das sei etwa auf der Hälfte zwischen Berlin und Rostock, sagte mir das nichts, da ich über die Geographie in der DDR deutlich weniger Vorstellung hatte als hinsichtlich westeuropäischer Länder; so weit waren wir schon durch die westlich orientierte Schulbildung in der BRD voneinander entfernt. Dies war eine Folge des unsere Schulzeit beherrschenden „Eisernen Vorhangs“.
Natürlich haben wir damals eingehend darüber gesprochen, wie wir zusammenbleiben könnten, aber wir sahen keine Lösung, die politischen Grenzen zu überwinden. Das hätte wohl mehr heroischen Mut erfordert, den wir beide nicht hatten. Umso mehr bewundere ich heute die Demonstrant*innen gegen ihre Regierung in autoritär beherrschten Staaten.
So haben wir nach einigen Briefwechseln den Kontakt abgebrochen und uns gegenseitig eine wunderbare Zukunft gewünscht. Unser letzter Briefwechsel handelte dann Ende 1965 von unserer jeweiligen Verlobung.
1993 wollte die damalige Ost-Berliner Freundin nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten den Kontakt mit mir wieder aufnehmen. Sie hatte die Idee, ich könne vielleicht Rechtsanwalt geworden sein. Durch intensives Durcharbeiten von Rechtsanwalts-Verzeichnissen und mehreren Anrufen bei „falschen“ Adressen hat sie den Kontakt zu mir tatsächlich auch hergestellt.
Wir haben uns also durch die Wiedervereinigung 1990 wiedergefunden und bleiben seitdem bis heute freundschaftlich verbunden.
Autor: Rolf Schultz-Süchting