von Irmgard Schulz | Mit ihrem Dutt kam sie mir alt vor. Dabei war Fräulein Dörrwald nicht älter als dreißig oder vierzig. Ich besuchte 1942 in Hamburg die erste Klasse der Volksschule Kurze Mühren und sie war meine Lehrerin.
Morgens ging ich zu Fuß am Zippelhaus los. Dort wohnten wir, gegenüber der Speicherstadt. Von der Schule existiert heute nur noch das Portal.
Wir mussten still und gerade sitzen, die Hände vor uns auf dem Tisch, die Daumen unter der Tischplatte. Wer nicht spurte, bekam von Fräulein Dörrwald eins auf die Finger. Wer nicht gerade saß, kriegte den Rohrstock ins Kreuz. Bei Bombenalarm mussten wir eine Art Rundbunker auf dem Schulhof aufsuchen. Nach der Entwarnung lief ich immer sofort mit meinem Ranzen auf dem Rücken nach Hause, um zu sehen, ob unser Haus noch steht und meine Eltern noch leben.
1943 wurden die Bombenangriffe so schlimm, dass meine Mutter und wir Kinder (ich hatte damals zwei Brüder) evakuiert wurden. Mein Vater war in Hamburg eingezogen worden. Als Klempner und Elektriker musste er in brennende Häuser gehen und darin Gas und Strom abstellen und die Toten bergen. Darüber sprach er aber nur wenig.
Wir Kinder wurden also mit unserer Mutter in einen Zug in die Niederlausitz gesetzt. Dort zwischen weiten Feldern roch es so wunderbar, dass ich mich an diesen Duft bis heute erinnere. Wir bewohnten ein Zimmer im Hause eines Pastors, in dessen Garten Tomatenspaliere standen. Meine schwangere Mutter pflückte sich heißhungrig ein paar davon, allerdings ohne zu fragen. Das gab Stress mit dem Herrn Pastor und seiner Haushälterin.
Nach drei Monaten zogen wir in die Altmark in das Dorf Mechau, das an einem Flüsschen namens Flöthe liegt. Wir wohnten bei meinen Großeltern, die als ausgebombte Flüchtlinge dort in einem kleinen Tagelöhnerhaus untergekommen waren.
In dem Dorf gab es eine Schule in einem einzigen Raum. Einmal bekam ich eine Strafarbeit, weil ich in der Tür nicht mit ausgestrecktem Arm gegrüßt hatte. Der Lehrer befahl mir, zurückzutreten, noch einmal reinzukommen, stramm zu stehen und den rechten Arm auszustrecken. Das fand ich schrecklich!
In den Ferien mussten wir Schulkinder auf den Feldern helfen. Im Sommer Kartoffelkäfer sammeln, im Herbst die noch im Stoppelfeld verbliebenen Kartoffeln einsammeln.
In Mechau wurden wir wie Flüchtlinge behandelt. Einige Kinder hänselten uns und machten Witze über unsere Sprechweise: „Die Hamburger ssstolpern übern ssspitzen Ssstein!“ Aber wir knüpften auch Freundschaften. In diesem Dorf kam meine kleine Schwester zur Welt. Kurz bevor 1945 die Russen ins Dorf kamen, gelang uns – wir waren ja nun zu siebt – versteckt in einem Lastwagen die Rückfahrt nach Hamburg.
Zum Glück fanden wir dort unser Wohnhaus weitgehend unzerstört vor und mein Vater war am Leben. Ich besuchte wieder die Volksschule Kurze Mühren.
Der Unterricht fand nun in drei Schichten mit je 45 Kindern statt. Unsere Lehrerin Frau Faßhauer (entnazifiziert) kam aus den Vier- und Marschlanden. Sie freute sich, wenn wir mal ein Brikett oder etwas anderes zum Heizen mitbrachten, die Klassen waren ja kalt. Viele von uns gingen „Kohlen klauen“. Ich wurde leider von der Militärpolizei erwischt! Die Lehrerin brachte aber auch gern kaputte Sachen mit in die Schule und fragte, ob Eltern etwas reparieren können. Dabei hatten die meisten selbst wenig Arbeitsmaterial.
Die Schulärztin schickte uns manchmal zu einer Gesundheitsstelle am Berliner Tor. Dort bekamen wir einen Esslöffel Lebertran und sollten uns wegen Vitamin-D-Mangels unter Höhensonnen legen. Gegen den großen Hunger hat uns Kindern auch die tägliche Schwedenspeisung sehr geholfen. Dafür sollte jedes Kind ein Gefäß von zu Hause mitbringen und bekam darin täglich eine Suppe.
In einem Nachkriegssommer gab es in den großen Ferien am Köhlbrand eine Art Erholungsprogramm für Schulkinder. Wer daran teilnehmen wollte, bekam jeden Tag einen Fahrschein für zehn Pfennig und konnte zu den Landungsbrücken fahren. Mit einer Barkasse fuhren wir weiter bis zum Köhlbrand. Dort war ein Schuppen mit Tischen und Bänken, es gab Essen, wir sangen Lieder und konnten in der Elbe baden. Ein wenig kindgerechte Abwechslung von unserem grauen Alltag in den Trümmern.
Am Ende der vierten Klasse wurden zwei Jungs und zwei Mädchen zur Prüfung für das Gymnasium an der Klosterschule vorgeschlagen. Eins davon war ich. Leider wurde ich nicht angenommen. Doch mein Vater befand: „Natürlich brauchst du das Abitur, sonst kannst du nur Klofrau werden.“ Er meinte das nicht abwertend, denn er hatte seinen kriegsversehrten Bruder vor Augen. Der kam mit einem Bein zurück aus dem Krieg und musste sich zu seiner mageren Rente in einem Lokal am Steindamm als Toilettenmann etwas dazuverdienen.
Also besuchte ich nun die Mittelschule an der Sternschanze, eine Mädchenschule.
Meine Lehrerin Frau Flake hatte in Oxford studiert und legte großen Wert auf die richtige Aussprache des „Ti Aidsch“. Sie gab uns das Buch „Alice in Wonderland“, was wir uns ohne Grundkenntnisse in Englisch selbsttätig erarbeiten mussten.
Wir hatten damals zwar keine Bücher, mussten aber trotzdem Jahresarbeiten schreiben. Dafür ging ich in die Universitätsbibliothek. Meine erste Jahresarbeit hatte das Thema „Kaiserstadt Aachen“, die zweite hatte „Shakespeare“ als Thema. Alles musste ich mir selbst anlesen, von beiden Themen hatte ich zuvor noch nie etwas gehört.
Privat lernte ich Stenografie, um mir schneller etwas aufschreiben zu können. Ansonsten haben wir viel gelernt, hatten alle Grundfächer. Deutsche Geschichte durfte nicht unterrichtet werden. Dafür erfuhren wir viel griechische Geschichte mit allen Göttern und zeichneten griechische Säulen. Kalligraphie gehörte auch dazu – eine wunderschöne, historische Schrift. Gedichte von Schiller und Goethe durften sein. Die „Glocke“ könnte ich wohl noch aufsagen! Mein Resumée: Ich habe viel gelernt – vielleicht mehr als heute beim Abitur nötig wäre!
Nach dem mittleren Schulabschluss wollte ich schnell Geld verdienen und endlich erwachsen sein. In einem kleinen Radiogeschäft in der Nähe der Petrikirche fand ich eine Stelle als „Anlernling“, wie es damals hieß. Da ich Kurzschrift beherrschte, bestellte mich der Chef zum Diktat, allerdings in seine Privatwohnung. Beim zweiten Mal wurde er zudringlich. Wie eine Krake. Zu Hause erzählte ich meinen Eltern, dass ich dort nicht weiterarbeiten würde, verschwieg ihnen aber den Grund.
Ich habe mich nicht getraut und geschämt, darüber mit ihnen zu sprechen. Lieber hielt ich die Enttäuschung der Eltern aus. Schließlich besuchte ich doch noch die Höhere Handelsschule am Holzdamm und fand danach eine Anstellung als Verwaltungsangestellte.
Autorin: Irmgard Schulz
Protokollantin: Corinna Feierabend