von Claus Günther | Wenn es irgendeine Kinderkrankheit gab, die ich noch nicht hatte – ich bekam sie. Ich blieb klein, blass und kränklich und wurde erst mit sieben Jahren eingeschult, 1938. Grundausstattung: Tornister, Brottasche, Schiefertafel, Schwamm, Tafellappen, Griffel. Anfangs schrieben wir noch die „deutsche Schrift“ Sütterlin.
Strafen: Man musste in der Ecke stehen, das Gesicht zur Wand, oder man wurde nach draußen vor die Tür geschickt, es gab Ohrfeigen oder Schläge mit dem Rohrstock. Ohrfeigen gab es im Gymnasium noch bis zur 9. Klasse. Erwachsene waren überzeugt: „Schläge haben noch nie jemandem geschadet. Sind doch alle was Anständiges geworden, später.“ In meinem ersten Zeugnis stand: „Claus schwatzt zu viel.“
1942 Wechsel zur ‚Oberschule für Jungen‘ (heute: Friedrich-Ebert-Gymnasium). Unterrichtsausfälle, bedingt durch Bombenalarm und Krieg, aber auch danach.
Herbst/Winter 1945: Unterrichtsausfälle durch Kohlenmangel. Ausgebombt, Vater krank zurück aus der Gefangenschaft und arbeitslos, Hungerwinter. Schwierigkeiten in Mathe und Latein, Null Bock auf die Schule.
Sitzenbleiber, 9. Klasse.
Unterricht nach wie vor weitgehend mangelhaft. Kurz nach Kriegsende gab es kaum junge Lehrer (viele von ihnen waren „gefallen auf dem Felde der Ehre“), und so hatte man denn den einen oder anderen Pensionär zurückgeholt in den Schuldienst. Doch auch die übrigen waren großenteils überaltert, und manch einer sicherlich am Rande der Demenz. Viele waren bei uns Schülern „unten durch“, wir hatten kaum Respekt vor ihnen. Es waren Typen wie im Film „Die Feuerzangenbowle“.
Im Folgenden einige Beispiele und originale Zitate. Der Schüler Meyer ist fiktional; von den Lehrern nenne ich nur die Spitznamen:
Hänschen (Mathe) hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren; sein Holzbein knarzte, wenn er es herumschwang. Armer Kerl. Standard-Spruch: „Oho! Aufpassen! Nicht schwadronieren!“
EsKaBe (Deutsch und Erdkunde): Seine Leidenschaft galt der Eisenbahn. Einer von uns schaffte es immer, die Sprache darauf zu bringen und ihn damit abzulenken. Damit war die Stunde gelaufen.
Suckel (Latein und Erdkunde): Er kam leicht gebeugt herein, ging zum Pult, nahm Platz, schlug das Klassenbuch auf und fragte: „Sind Fehlende da?“ Danach sprach er ausgesprochen höflich weiter: „Ich stelle ein paar Fragen. Ich bitte aufzustehen und die Fragen zu beantworten, der – Meyer.“ Der Schüler Meyer war aber aufsässig und schaffte es, Suckel so zu provozieren, dass jener aufstand, zu dessen Platz ging und auf ihn einschlug (wobei jener die Hände schützend über den Kopf hielt) mit den Worten: „Meyer, du stinkiger Lump !“
Lupus (Englisch). Nachdem er gehört hatte, der Schüler Meyer wollte in die USA auswandern, gab er ihm die Englisch-Klassenarbeit zurück, nachdem er einige Fehler ausgebessert und ihn dadurch besser benotet hatte: „Hier! Setz dich auf deinen faulen Arsch und pauk das!“
Fieten (Biologie) war stark kurzsichtig. Bei einem Klassenausflug pflückte einer von uns zwei verschiedende Blümchen am Wegesrand, steckte sie geschickt zusammen und überbrachte das Fieten. „Tje“, sagte jener in seinem seltsamen Dialekt, „tas scheint ein kanz sseltenes Exemplar – wie heißt er?“ (Fieten konnte sich keine Namen merken). Dann schrieb er dem Jungen eine 1 in sein Notizbuch. Der Knabe gab das Gebilde an einen Mitschüler weiter, der es Fieten kurz darauf demonstrierte und ebenfalls seine 1 bekam. Erst beim dritten Mal ging Fieten auf, dass dies „Gesteck“ hier offenbar häufiger vorkam.
In der Kinder-Landverschickung ließ Fieten sich zu der Bemerkung hinreißen: „Tje! Lasst man erst den Russen herkommen. Tann kommt ihr alle nach Sipirjen!“ Antwort eines Schülers: „Fieten, dann bist du der Erste!“
Rassenkunde in der NS-Zeit. Auf einer Schautafel war grafisch dargestellt, dass ein geistig minderbemittelter Mann angeblich ebensolche Nachkommen gezeugt hatte. Dazu der Text: „Wenn dieser Mann sterilisiert worden wäre, dann wäre das nicht passiert.“ Eines Tages hatte jemand „dieser Mann“ durchgestrichen und stattdessen FIETEN geschrieben. –
Um 1950 waren wir Schüler 18 oder 19 Jahre alt und hatten unsere ersten Liebschaften. Eines Tages beichtete einer aus der Klasse, Fieten habe ihn im Wald bei einem Techtelmechtel ertappt, doch er sei gewappnet. Fieten kam und erzählte: „Tje! Kestern streifte ich turch ten Wald, um den ‚Schwarzen vom Jammertal‘ zu peobachten [einen kapitalen Bock], und wen sah ich ta im Kepüsch – ihn!“ Dabei zeigte er auf den Schüler. „Mit einem Schmalreh, und tie haben sich kekenseitig keschwächt!“ Der Schüler aber entgegnete frech: „Herr Doktor L., ich muss doch sehr bitten – das war meine Mutter!“
Hannibal (Erdkunde) war der Gipfel, denn er verkündete alles laut und mit Pathos, wurde am Ende des Satzes hingegen immer leiser: „Die Landschaft wird beeinflusst durch Berge und Täler.“ Und: „Aber der Buntsandstein findet sich auch, wo kein Buntsandstein vorhanden ist!“
Positiv anzumerken: Teddy, mein Deutschlehrer, ließ mich ein Referat über das Grundgesetz halten – meine erste Begegnung mit der Demokratie, 1950.
Autor: Claus Günther