„Sei höflich und bescheiden“ (1935 bis heute)

von Waltraud Pleß | Eigentlich habe ich immer – wenn auch zunächst unbewusst – unter dem Verhängnis der frühen Geburt gelitten. Dass mich ein Schulrat bei einer Prüfung zur Einschulung, die mir das Überspringen der ersten Klasse ermöglichte, als Verhängnis bezeichnete, dass ich als zweitgeborenes Kind 1935 schon wieder ein Mädchen war, hat mich über Jahrzehnte geprägt. Es war nicht einfach, ständig den Beweis erbringen zu wollen, dass man dennoch etwas leisten konnte. Diese Erwartung an mich führte eigentlich zu einer ständigen Überforderung.

Es gab den schönen Poesiealbenspruch „Sei höflich und bescheiden, dann mag Dich jeder leiden“. Der Vater duldete keine „Widerworte“, sodass die Mutter uns den Satz einprägte: „Macht, was von euch verlangt wird, dann geschieht euch nichts“. Sie kannten es nicht anders.

Noch nicht lange, aber nicht zu spät, habe ich einen Schalter in meinem „Oberstübchen“ umgelegt. Statt zu reflektieren, was man mit mir gemacht hat, wieviel Demütigungen und Benachteiligungen ich hingenommen habe – kam die Erkenntnis:

„DAS HABE ICH MIT MIR MACHEN LASSEN!“

Seitdem bin ich, soweit das in meinen Kräften steht, bemüht, ich hoffe mit ein wenig Erfolg, meinen Mitmenschen zu vermitteln, dass wir hier und heute in einer so privilegierten Situation sind wie kaum jemals zuvor.

Es gibt unvorstellbar viele Möglichkeiten, ein relativ selbstbestimmtes Leben zu führen, sich weiter zu bilden, sich einzubringen. Dies habe ich auch bei meinem ersten Besuch als Zeitzeugin den Jugendlichen ans Herz gelegt: „Nutzt diese Chance, ein Leben lang.“

Mein ganz großer Wunsch wäre, dass auf der ganzen Welt ein Umdenken stattfände. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Autorin: Waltraud Pleß