von Frauke Petershagen | Hunger tut weh, Kälte aber auch. Und wie! In dem sogenannten Hungerwinter 1946/47 habe ich beides erlebt, und ich kann nicht sagen, ob für mich der Hunger oder die Kälte schlimmer war.
Wir wohnten damals in Vierlanden, der Gemüsekammer Hamburgs, und so bekamen wir manchmal Kohl oder Steckrüben, die wurden dann in Wasser gekocht und schmeckten dementsprechend fade. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich mich überwinden konnte, wieder Steckrüben zu essen und war erstaunt, wie schmackhaft die sein können, wenn sie mit Fleisch und Gewürzen zubereitet werden.
Fett war zu der Zeit absolute Mangelware, und man gierte geradezu nach jedem Gramm Butter oder Schmalz. Das Pergamentpapier, in das die wenige zugeteilte Butter verpackt gewesen war, wurde über den Speisen ín einer Pfanne ausgebreitet, um durch die Wärme etwaige letzte Fettreste herauszulösen.
Einmal bekamen wir beim Schlachter eine Art „Bouillon“. Das war Wasser, in dem offenbar eine Kuhhaut abgebrüht worden war. Neben einigen weißen Talgklümpchen schwammen darin Fellstücke und Kuhhaare herum. Diese trübe Flüssigkeit wurde von meiner Mutter erhitzt und anschließend durchgesiebt. Sie konnte jedoch auch durch diese Maßnahme nicht alle Kuhhaare aus der Ekelbrühe entfernen.
Ganz schlimm war das Maisbrot. Es war schlierig und backsig. Uns Kindern graute davor, davon zu essen, wussten wir doch, dass die Folge heftigste Bauchschmerzen sein würden. Wie ein Stein lag es im Magen, so wie beim Wolf von den sieben Geißlein die Wackersteine. Nur dass es nicht rumpelte und pumpelte.
Wir hatten die Wahl zwischen einem leeren vor Hunger brüllenden Magen oder quälenden Bauchbeschwerden, verursacht durch den widerlichen Maisglitsch.
Wie später berichtet wurde, hatten sich die englischen Besatzer erkundigt, was von der deutschen Bevölkerung dringend benötigt würde. „Korn“ wurde ihnen gesagt. Korn = corn, das bedeutet im Englischen Mais, und aufgrund dieses Verständigungsfehlers wurde dann Mais statt Weizen geliefert. Damals musste man für den Besuch einer weiterführenden Schule noch eine Aufnahmeprüfung ablegen. Die fand für die Kinder der Landbevölkerung Anfang 1947 in Allermöhe statt. Für mich bedeutete das kilometerlange Fußmärsche über den Deich in völliger Dunkelheit bis zur Bushaltestelle.
Und das bei grimmigster Kälte und eisigem Wind, der oft noch von vorne kam und durch alle Kleidungsstücke pustete. Erbarmungslos biss der Frost in Hände und Füße und ließ die Gliedmaßen zu Eisblöcken gefrieren. Wind- und wasserdichte Kleidung, die die Unbilden des Wetters weitgehend abhielt, gab es nicht. Warme Stiefel, evtl. sogar aus Fell, kannte man nur von Hörensagen oder aus Märchen. Man war schon froh, wenn man zumindest ein einigermaßen festes Paar Halbschuhe besaß. Stapfte man damit allerdings durch hohen Schnee, waren die Füße binnen kürzester Zeit durchnässt und zu Eis gefroren. Die Fußbekleidung entwickelte sich zu einem Dauerproblem, hauptsächlich für Kinder, deren Füße ja bekanntermaßen noch wachsen.
Einmal bekam ich von einer Großtante ein Paar wadenhohe Knopfstiefelchen aus schwarzer Seide mit einem erhöhten Absatz und dünnen, glatten Ledersohlen geschenkt. Sie waren offensichtlich für einen Ball gedacht und zur Jugendzeit dieser Großtante bestimmt sehr elegant gewesen. Ich fand sie schrecklich. Auf Geheiß meiner Mutter zwängte ich meine Füßer aber in diesen Schuhkerker und versuchte, durch den Schnee zu laufen. Es war hoffnungslos. Meine Kinderfüße waren nicht an hohe Absätze gewöhnt, durch die glatten Sohlen eierte und schlingerte ich durch die weiße Pracht und konnte mich nur mühselig auf den Beinen halten. Im Nullkommanix war die Seide durchnässt und löste sich in ihre Bestandteile auf. Tja, das war dann das Ende dieser feschen Knopfstiefelchen.
Wie oft kamen meine Schwester und ich mit abgestorbenen Händen nach Hause, die handgestrickten Fäustlinge steifgefroren. Ebenso die Füße waren vollkommen gefühllos. Aber erst jetzt in der Wärme begann das wahres Martyrium, wenn Hände und Füße langsam auftauten. Es war so schmerzhaft, dass wir bitterlich weinten. Auch bildeten sich im Laufe der Zeit Frostbeulen, die zusätzliche Pein bereiteten.
Wenn ich sagte, dass wir in die Wärme kamen, so ist das relativ. Richtig mollig warm war der einzige beheizte Raum nicht, eher lauwarm. Der Koks, den wir geliefert bekamen, war von geringer Qualität und enthielt viel Grus, der verschlackte und wenig Wärme abgab.
Manchmal brachte uns ein Onkel hochwertige Steinkohle aus Hamburg mit, die er auf dem Gepäckständer seines Fahrrades bis nach Vierlanden transportierte. Ich will gar nicht wissen, woher er die hatte. Für uns war es jedes Mal ein Festtag, wenn endlich mal wieder richtig durchgeheizt werden konnte. Und es hat bestimmt mitgeholfen, diesen grausamen Hungerwinter zu überstehen.
Autorin: Frauke Petershagen