von Claus Günther | Wir Kriegskinder haben gehungert, gefroren und gelitten, und doch hat es Augenblicke des Glücks gegeben, die unvergesslich geblieben sind.
Einer davon war für mich der 24. Dezember 1944 im Kinderlandverschickungs-Lager Mährisch Weißkirchen – tschechisch: Hranice – wo wir Jungs (meine Klassenkameraden und ich, aber auch ältere Jungs aus unserem Harburger Gymnasium, dazu die Lehrer) in der Landwirtschaftlichen Fachschule untergebracht waren. Einige von uns hatten für den Heiligabend unter der Leitung des Deutschlehrers das Märchen „Das tapfere Schneiderlein“ einstudiert. Ich durfte die Hauptrolle spielen – und war in meinem Element. Heimweh kam bei mir nicht auf. „Claus“, sagte der Lehrer hinterher zu mir, „du hast brillant gespielt.“
Das zweite Ereignis passierte am 5. April 1945, an meinem 14. Geburtstag im Kloster Windberg, nahe Straubing. Auf der Flucht vor den Sowjets waren wir Jungs samt Lehrern in Bayern gelandet und wurden im Gasthaus von Mutter Deschl verpflegt. Ich hätte mich riesig über Post gefreut, Post von zu Hause, von meiner Mutter, oder von der „Front“, von meinem Vater, doch ich rechnete nicht damit – und sollte leider recht behalten.
Ich wusste auch, dass mich hier keiner beschenken würde. Woher denn? Es gab ja nichts! Es würden wohl nur ein paar Blümchen auf meinem Platz am Esstisch liegen, und eine Kerze würde angezündet sein. Bonbons? Nein, die Bonbons wären mittlerweile sicher aufgebraucht. Mutter
Deschl, die sich durch einen Lehrer von allen „Buam“ die Geburtstage hatte nennen lassen, hatte schon so viele von uns am Geburtstag mit Bonbons bedacht. Sicher war ihr Vorrat erschöpft.
Mir blieb nur die Hoffnung, und das Wunder geschah: Auch bei mir lagen, wie zuvor bei den anderen, 6 oder 8 Bonbons an meinem Platz. Welch eine Köstlichkeit in dieser Zeit, welch ein wunderbares Geburtstagsgeschenk!
Am 8. Mai dann die Erlösung: Deutschland hat kapituliert, bedingungslos. Also nie mehr die Uniform der Hitlerjugend tragen, nie mehr mit „Heil Hitler!“ grüßen müssen! Ich war erleichtert.
Schließlich und endlich: das Nachhausekommen, auch wenn es mein Zuhause nicht mehr war – das war von Bomben zertrümmert. Aber hier, bei meiner Großmutter, war mir alles seit Jahren vertraut.
Meine Mutter öffnete auf mein stürmisches Klingeln, Omi kam hinterher … Welch eine stürmische, lang anhaltende Umarmung, welch gestammelten Worte des Wiedersehens nach anderthalb Jahren, im August 1945!
Am Abend dann das flauschige Federbett zum Hineinkuscheln, nach monatelangem Schlafen auf dem Strohsack. Und noch etwas fiel mir jetzt erst richtig auf: Ich durfte Licht machen im Dunkeln, ohne ein Rollo herunterzuziehen, ohne Verdunkelung, ohne Gefahr, dass jemand „Licht aus!“ schrie und mich später in der Nacht die Sirene aus dem Schlaf riss und ich hastig im schützenden Keller verschwinden müsste.
Der Krieg war vorbei.
Autor: Claus Günther