von Richard Hensel | Ich wurde im Stadtteil Danzig-Langfuhr geboren, so wie auch der Schriftsteller Günter Grass. In seinem Roman „Die Blechtrommel“ beschreibt er, wie er im Sommer oft mit der Straßenbahn zum Strand fährt. Das haben wir auch gemacht. Dr. Hollatz, der im Buch vorkommt, und den kleinwüchsigen Blechtrommler Oskar Matzerath untersucht, gab es tatsächlich! Zu dem ging nämlich auch meine Mutter mit meinem Bruder und mir, wenn wir Wehwehchen hatten.
Bis 1937 hatte mein Vater in Langfuhr eine Bäckerei. Danach übernahm er das Haus und den Bäckerei-Konditorei-Betrieb seines Schwiegervaters in der Danziger Innenstadt, nahe der Marienkirche. Er wurde zum Glück nicht an die Front berufen. Wir litten bis zur Besetzung der Roten Armee keinen Hunger und lebten für damalige Verhältnisse recht komfortabel. Wir besaßen schon in Langfuhr ein Auto sowie einen Telefonanschluss. Ich bin der Älteste von fünf Brüdern und einer Schwester. Helfen in der Bäckerei mussten wir Kinder nicht. Aber vor Feiertagen versah ich die Kuchenbleche, die die Kundinnen zum „Abbacken“ zu uns brachten, mit Nummern und musste sie nach dem Backen der richtigen zurückgeben. Das Hin und Her brachte mir zehn Pfennig pro Runde. So verdiente ich mein erstes Geld.
Im Vorderhaus befanden sich oben vermietete Wohnungen. Im Parterre waren der Verkaufsraum und das Wohnzimmer. Hier stand ein großer Tisch, der sich für zwölf Personen ausziehen ließ. Manchmal legten wir Kinder zum Spielen Einwickelpapier aus dem Laden mit aufgemalten Straßen darauf und bauten mit Holzhäusern und Autos Dörfer und Straßen. An einem weiteren Tisch konnten die Angestellten essen. Und an einem runden Tisch, über dem eine Lampe hing, spielten wir manchmal Brettspiele wie Halma, Mühle oder Mensch-ärgere-dich-nicht mit einem unserer Kindermädchen oder mit unserer Mutter.
Oben im Haus befanden sich ein beheizbares Badezimmer und in jedem Raum ein Kachelofen. Dort war auch das sogenannte Herrenzimmer meines Vaters. Wenn er sich darin aufhielt, schloss er sich immer ein. Einmal jedoch vergaß er abzuschließen und ich erwischte ihn, wie er mit einer Wolldecke über dem Kopf den verbotenen Sender Radio London hörte. Ich musste ihm hoch und heilig versprechen, darüber mit keinem Menschen zu sprechen, nicht einmal mit meinem Bruder.
Unten im Haus befand sich die Backstube. Noch darunter lag in einem langen gewölbeartigen Gang der Kohlenkeller. Man erzählte sich, dass dieser Gang vor langer Zeit eine Verbindung zur Burg gewesen sei. Wenn ich Kohlen holen musste, warf ich erst immer ein Stück Holz oder Kohle in den Gang, um die vielen Ratten zu verscheuchen, die sich dort tummelten.
Die Bäckerei war bis 1945 in Betrieb. Bis zum 23. März blieben wir in unserem Haus. Meine Eltern hatten aber unterdessen auch bereits Fahrkarten für die ganze Familie auf dem Schiff Wilhelm Gustloff gekauft, um der Roten Armee Richtung Westen zu entkommen. Doch meine Eltern hatten ein so inniges Verhältnis zueinander, dass meine Mutter das Schiff ohne meinen Vater, der noch arbeitete, nicht nehmen wollte. In Anbetracht der Torpedierung der Gustloff am 30. Januar, bei der Tausende ertranken, rettete diese Entscheidung uns wahrscheinlich das Leben.
Vor der Übernahme der polnischen Soldaten mussten wir schließlich fliehen. Dabei kamen wir an eine Panzersperre. Meine Mutter mit dem Doppelkinderwagen für die erst 15 Monate alten Zwillinge gelangte hindurch. Bei ihnen waren auch die sechsjährige Schwester und der siebenjährige Bruder. Doch mein Vater, mein älterer Bruder und ich hatten einen Fahrradanhänger bei uns, der zu breit war und nicht durch die Sperre passte. Also wollten wir einen anderen Weg suchen. Dabei nahm ein russischer Soldat meinen Vater fest. Er wurde interniert. Mein Bruder und ich waren die folgenden Tage allein und nur auf uns gestellt. Ich war völlig kopflos, obwohl ich der ältere von uns war.
Endlich trafen wir eine russische Ärztin, die wusste, dass sich unsere Mutter mit den vier anderen Kindern in einem Krankenhaus befand. Sie hatte nach einer Vergewaltigung versucht, sich das Leben zu nehmen. Als wir sie sahen, hatten sie und die größeren Kinder das linke Handgelenk verbunden. Die Zwillinge lagen ganz teilnahmslos da und gaben Klagelaute von sich. Auf meine Frage sagte meine Mutter, sie hätten von einer russischen Köchin heiße Suppe bekommen, die wohl zu fett gewesen war. Daraufhin bekamen sie Brechdurchfall, denn sie hatten schon mehrere Tage kaum etwas gegessen.
Meine Mutter erzählte mir, was sich inzwischen zugetragen hatte. Nachdem sie selbst vergewaltigt worden war, kehrte sie zu ihrer Mutter (meiner Großmutter) zurück und fand diese mit aufgeschnittenen Adern vor. Sie hielt ein Messer in der Hand und rief: „Mach, mach, bevor der Nächste kommt!“ Daraufhin durchtrennte meine Mutter zuerst sich selbst und dann ihren beiden größeren Kindern die Adern. Als sie gerade Hand an die Kleinen anlegen wollte, stand ein Russe in der Tür und schrie: „Messer weg!“ Dieser brachte sie dann alle ins Krankenhaus, wo wir sie auffanden.
Später sagte meine Mutter noch, ihr einziger Gedanke, als sie die Kinder verletzte, sei gewesen: „Nimm die linke Hand.“ Unser Bruder überstand die Verwundungen mit nur leichten Schäden. Leider verstarb er 1950 in Wittstock / Dosse bei einem Unfall. Unsere Schwester aber erlitt nach den Schnitten eine Sepsis. Bei einer Operation wurde ihre Hand so schwer beschädigt, dass sie bleibende Einschränkungen davontrug. Die Zwillinge erholten sich nach diesen Vorfällen nicht mehr und verstarben im April 1945. Ich habe sie auf dem Grabhügel unseres Großvaters beerdigt. Meine Mutter konnte aufgrund ihrer Verletzung nicht dabei sein. Unsere Großmutter war nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht mehr mit uns zusammen. Sie soll in den nächsten Monaten an Typhus verstorben sein. Mein Vater wurde im August 1945 aus dem Internierungslager entlassen.
Protokoll: Corinna Feierabend