von Günter Lübcke | Zwischen 1940 und 1942 war ich im Rahmen der sogenannten Kinderlandverschickung sechzehn Monate in Landshut. Es gefiel mir gut, denn ich hatte dort Spaß und mehr Erfolg in der Schule als in Hamburg. Leider musste ich früher als vorgesehen zurück nach Hause, da mein Stiefvater an Tuberkulose erkrankt war und 1942 daran verstarb. So wurde ich als ältester von drei Söhnen bei uns „der Mann“ im Haus, trug also fortan eine gewisse Mitverantwortung für meine Brüder. Meine Mutter war zu dieser Zeit noch nicht mal vierzig.
Als Fünfzehnjähriger wurde ich 1944 zum „Volkssturm“ eingezogen. Im Wehrertüchtigungslager Trittau wurde Druck auf uns ausgeübt, damit wir uns „freiwillig“ zur Wehrmacht meldeten. Die Kameraden, die dies nicht taten, mussten länger im Lager bleiben, um sich dann „freiwillig“ zur SS zu melden. Wir mussten für den Kriegseinsatz Schützengräben ausheben und Stellungen für PAK-Geschütze (Panzerabwehrkanonen) „schippen“, wie wir es nannten. Dies diente als Vorbereitung für den Fall, dass Hamburg zur Festung erklärt würde.
Ein Bruder meiner Mutter und ein Bruder meines Vaters wurden aufgrund ihrer Tätigkeit für die illegale SPD im Konzentrationslager Fuhlsbüttel inhaftiert. Sie hatten Geld für die Partei gesammelt und verbotene Parteizeitschriften verteilt. Ob sie dort gefoltert wurden? Naja, normales Nasenbluten war es wohl nicht gewesen, was meine Tanten in der Wäsche ihrer Männer entdeckten, die sie regelmäßig zum Waschen abholen mussten.
Wann fängt Folter denn an? Einer von ihnen kam nach dreieinhalb Jahren frei. Der andere Onkel wurde nach zweieinhalb Jahren in Fuhlsbüttel zu Beginn des Krieges in ein Strafbataillon in Russland eingezogen und ist dort umgekommen.
Das im Krieg Erlebte brachte mich dazu, gleich 1946 Mitglied der Gewerkschaft zu werden. Ich habe in Hamburg bei der Bahn – damals hieß sie noch Reichsbahn – gelernt und war politisch interessiert. Ich kam aus einem SPD-Elternhaus und dass zwei meiner Onkel im KZ gewesen waren, prägte mich. Man muss politisch interessiert sein! Wir leben nicht auf einer einsamen Insel, sondern mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammen, die die unterschiedlichsten Ansichten haben. 1951 wurde ich Mitglied der SPD. Von 2004 bis 2016 war ich Kreisvorsitzender der SPD-Senioren in Wandsbek, für die ich bis heute aktiv bin.
38 Jahre lang gehörte ich dem Betriebsrat von Siemens an, wo ich als Wartungstechniker arbeitete. Ich war einige Zeit Leiter der Hamburger Ostermarschgruppe und habe den Marsch bis 1968 mit organisiert. Noch heute nehme ich jedes Jahr daran teil.
Ich empfinde es als meine Pflicht, im Sinne unserer Demokratie aktiv zu sein und dafür zu sorgen, dass sich alle Bürger auch politisch betätigen. Politisch hört sich so seltsam an, das mag an der Arbeit einiger Politiker liegen. Dabei bedeutet Politik doch nur, dass Regeln mehrheitlich beschlossen und eingehalten werden, die für eine Gemeinschaft wichtig sind. Die meisten wissen leider gar nicht richtig, was Demokratie eigentlich ist. Und laufen dann solchen Rattenfängern wie Trump hinterher, weil sie unzufrieden sind. Sie schimpfen, aber werden selbst nicht politisch aktiv, um etwas zu verändern. Diese Bürger denken nicht selbst, sondern lassen andere denken, weil sie selbst zu wenig über Pflichten in unserer Demokratie wissen. Demokratie ist, im Gegensatz zur Autokratie, alles andere als einfach. Sie bedeutet Arbeit und Anstrengung für alle. Weil man immer im Gespräch bleiben muss.
Wenn ich höre: „Wozu denn schon Kinder mit Politik belästigen? Das verstehen sie doch noch gar nicht“, frage ich mich, warum sie davon `belästigt´ werden sollten. Andere Fächer betrachtet man ja auch als Notwendigkeit, aber nicht als Belästigung. Wenn hier gute Demokraten heranwachsen sollen, nämlich Bürger, die ihre Rechte und Pflichten kennen, ist das Wissen über unsere Demokratie ein sehr wichtiges Fach. Meiner Meinung nach sollte es als festes Fach an Schulen gelehrt werden, dann hätten die Populisten es weniger leicht.
Protokoll: Corinna Feierabend